„Der vermessene Mensch“ im Kino – Das fehlende Denkmal

Lars Kraume macht den Versuch, dem deutschen Völkermord an den Herero und Nama ein filmisches Mahnmal zu setzen: „Der vermessene Mensch“.
Die vielgelobte deutsche „Erinnerungskultur“ – am ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts versagte sie kläglich. Erst 2015 nannte ihn Bundestagspräsident Norbert Lammert beim Namen, doch nur in einem Interview und nicht im Parlament. Deutsche Regierungen scheuen bis heute dessen offizielle Anerkennung wegen möglicher Rechtsfolgen; vergeblich verklagten Nachfahren der Ovaherero die Bundesrepublik vor US-Gerichten auf Entschädigung. Auch gegen eine von Deutschland und Namibia zuletzt verhandelte Versöhnungserklärung wird von Ovaherero und Nama zur Zeit in Windhoek geklagt – die beiden Völker verloren zwischen 1904 und 1908 durch die Massaker deutscher Truppen 40 000 bis 60 000 beziehungsweise etwa 10 000 Angehörige.
Umso willkommener erscheint da einigen in der deutschen Kulturpolitik Lars Kraumes Spielfilm „Der vermessene Mensch“. Nach einer vom Goethe-Institut mitveranstalteten Kinotour in Namibia lief der Film vergangene Woche auch im Bundestag. Wo es an offiziellen Gesten fehlt, kann manchmal das Kino bleibende Denkmäler errichten.
Tatsächlich scheint dieser Spielfilm deutlich orientiert an dieser besonderen Spielart historischer Dramen, die man als Denkmalfilm bezeichnen könnte. Auch wenn das Budget nicht ausreicht, um eine visuelle Vorstellung von der schieren Größe der Massaker zu vermitteln, sind wenigstens die überschaubaren Spielorte detailliert ausgestattet. Doch das Bemühen um Opulenz wirkt ebenso selbstzweckhaft wie der Versuch, das historische Verbrechen getreu den Genrekonventionen mit den Augen eines fiktiven Protagonisten zu erzählen.
Der vor allem aus dem Fernsehen bekannte Leonard Scheicher spielt Alexander Hoffmann, einen wissbegierigen jungen Ethnologen im Berlin des Jahres 1896. Eine der damals populären „Völkerschauen“ hat, wie sein Professor (Peter Simonischek) stolz verkündet, der Wissenschaft lebende Anschauungsobjekte in die Stadt gebracht. Jeder Student bekomme einen „Herero zum Vermessen“.
Tatsächlich lassen die zu Schauobjekten degradierten Menschen das Maßnehmen an ihren Köpfen nur über sich ergehen, weil sie ihre zugesagte Audienz beim Kaiser nicht verlieren wollen. Dort wollen sie sich Gehör verschaffen. Als sich die rassistische Prämisse, sie hätten kleinere Köpfe, nicht bewahrheitet, bezweifelt Hoffmann – für die Zeit durchaus revolutionär –, dass es biologisch unterschiedliche „Menschenrassen“ überhaupt gebe.
Seine – vom Professor prompt als Karrierekiller ausgemachte – These begründet er vor allem mit dem Gespräch mit der von ihm vermessenen Frau: Die Dolmetscherin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) erscheint ihm nach jedem Maßstab äußerst intelligent. Könnte man doch Ähnliches über die unglückselige Initiationsgeschichte dieses Wissenschaftlers sagen, die uns die folgenden anderthalb Stunden interessieren soll.
Acht Jahre später wartet Hoffmann immer noch auf seine Dozentur. Schon der Schnitt an den exakt gleichen Spielort deutet die Armseligkeit dieser Filmdramaturgie an. Immerhin kann sich Hoffmann einer „Exkursion“ nach Deutsch-Südwestafrika anschließen, die einzig dem Raub von Schädeln und Kunst dient. Alsbald wird er Zeuge des bereits begonnenen Vernichtungskriegs. Fotografiert immerhin werden die traurigen Spielorte von Bildgestalter Jens Harant in eleganten Breitwandbildern im „Jenseits von Afrika“-Stil.
Beschönigt wird nichts
Doch es ist ein selbstzweckhafter Ästhetizismus, der eben nicht wie in „Apocalypse Now“ in ein kontrapunktisches Verhältnis zum Grauen tritt. Und was das betrifft, ist seine Darstellung höchst zwiespältig. Einerseits wird nichts beschönigt. Den „guten Deutschen“ in Uniform wird man hier nicht finden, wenn auch den vergleichsweise harmlosen Missionar. Aber es fehlt an den Mitteln, mit einer überschaubaren Anzahl von Statisten und wenigen Szenen die Dimensionen der Vernichtung auch nur ansatzweise darzustellen.
Dem deutschen Mitläufer, der zusehends zum Opportunisten wird, geht jede innere Spannung ab. Die hölzernen Dialoge dienen meist dem Transport blanker Information. Scheicher kann man den blassen Eindruck nicht vorwerfen, mit solchem Text kann niemand glänzen. In der Fokussierung auf diese Figur verblasst allerdings unweigerlich jede afrikanische Perspektive. Die von Jazama sehr plastisch verkörperte Dolmetscherin könnte faszinieren – doch sie kommt kaum vor. Mindestens 80 Prozent des Dialogs entfallen auf deutsche Figuren. Es ist paradox: Um als deutsche Filmemacher keine Opferperspektive einzunehmen, degradierte man die Opfer zu Statistenfiguren oder repräsentiert sie durch einige willkürlich ausgewählte Kunstgegenstände.
Eine offizielle Pressemeldung wirbt damit, dass „Der vermessene Mensch“ der erste Kinofilm über den Genozid sei. Neben Dokumentarfilmen entstand aber 1985 für den WDR der Dreiteiler „Morenga“ nach dem Buch von Uwe Timm, von dem auch eine einteilige Kinofassung existiert. Und vor einigen Wochen zeigte das Filmfestival Rotterdam eine der seltenen Spielfilmproduktionen aus Namibia. In seinem Thriller „Under the Hanging Tree“ wählt der namibisch-britische Regisseur Perivi Katjavivi eine Gegenwartsgeschichte für die Präsenz der Wunden aus der Vergangenheit. Eine Polizistin wird zur Farm eines deutschstämmigen Landwirts gerufen, der dort erhängt wurde – wie so viele Schwarze in der Kolonialzeit.
In einer gerechten Welt würde auch diese Annäherung an das Thema ein deutsches Publikum erreichen, wenigstens im Fernsehen. Aber wie es heute nun einmal ist, beansprucht ein gut gemeinter, aber alles andere als guter Film als angeblich „einzige filmische Dramatisierung“ gleichsam die Deutungshoheit. Immerhin – und hier ist Lars Kraumes Intention untadelig – bringt er ein im noch immer verdrängtes Kapitel deutscher Schande wieder auf die Agenda.
Der vermessene Mensch. D 2022. Regie: Lars Kraume. 116 Min.