1. Startseite
  2. Kultur
  3. TV & Kino

„Dau.Natasha“ im Wettbewerb: Monströses Kammerspiel

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Daniel Kothenschulte

Kommentare

Natalia Berezhnaya als Kantinenchefin Natasha, hier mit Olga Shkabarnya als ihrer Assistentin.
Natalia Berezhnaya als Kantinenchefin Natasha, hier mit Olga Shkabarnya als ihrer Assistentin. © Phenomen Film

Steckt im gewaltigen Materialberg von Ilya Khrzhanovskiys Kunstprojekt „DAU“ großes Festivalkino? Ein erster Einblick im Berlinale-Wettbewerb stimmt skeptisch.

Mehr als in jeder anderen Filmnation verstand man in Russland das Kino schon früh als eine Wissenschaft. Die führenden Avantgarde-Regisseure der Stummfilmzeit waren zugleich auch Theoretiker, und bis heute ist das Experiment des Regissuers Lev Kuleshov jedem Filmstudenten geläufig: Der Filmemacher hatte die identische Aufnahme eines Star-Schauspielers mit unterschiedlichen „Gegenschüssen“ kombiniert. Ein Testpublikum glaubte dennoch, unterschiedliche Gesichtsausdrücke beim Star zu erkennen, abhängig davon, ob sein Blick auf einen Teller Suppe oder ein totes Kind zu fallen schien.

Gut möglich, dass auch „DAU“, das monumentale Experiment des Filmemachers und Multimediakünstlers Ilya Khrzhanovskiy, in die Filmgeschichte eingehen wird. Der nun im Berlinale-Wettbewerb gezeigte Einzelfilm „Dau.Natasha“, lässt die ganzen Dimensionen des Gesamtwerks kaum erahnen: Bereits 2006 hatte er in der Ukraine mit der Planung und Errichtung eines 12 000 Quadratmeter großen Filmsets begonnen – der bis ins Detail glaubhaften, dennoch fiktionalisierten Rekonstruktion eines Moskauer Geheimlabors aus der Stalinzeit. Während der mehrjährigen Dreharbeiten waren die Darsteller gehalten, ihre Rollen mitunter 24 Stunden täglich auszufüllen – eine Art Truman-Show im Stalinismus.

Zur geplanten Premiere in Cannes 2011 war der Film nicht fertig, und noch 2017 wurde daran geschnitten. Am Ende belichteten der deutsche Kameramann Jürgen Jürges und sein Team mehr als 700 Stunden 35mm-Filmmaterial. 2018 schließlich sollte die Premiere in Form einer kaum minder monumentalen Berliner Rauminstallation stattfinden – komplett mit nachgebauter Berliner Mauer – scheiterte jedoch an behördlichem Einspruch; die Produktionsfirma hatte die Pläne zu kurzfristig vorgelegt. Vor einem Jahr schließlich konnte ein Pariser Publikum in speziellen Installationen eine Fassung mit zwölf Einzelfilmen sehen. Das Interesse war groß, das Urteil der Kritik bestenfalls geteilt. Schon vorab traf das Berlinale-Event, ergänzt durch den sechsstündigen Dokumentarfilm „Dau.Degeneratsia“ als Special Screening auf Kritik: Sollte es sich wirklich noch um eine echte Weltpremiere handeln?

Diese Frage lässt sich wohl bejahen – nicht nur, weil „Dau.Natasha“ in seinen Gewaltdarstellungen weniger deutlich wirkt als es nach Beschreibungen der Pariser Fassung scheint (aufgrund derer Hanna Schygulla nicht mehr bereit war, als deutsche Sprecherin aufzutreten). Entscheidend ist: Bei einem Multimediaprojekt ist der Wirkungskontext, das sogenannte Dispositiv, von zentraler Bedeutung. Auch identisches Filmmaterial kann als Teil einer Kunstinstallation ganz anders wirken als in einem Kino-Kontext. So gesehen, ist es ein wenig wie beim Kulishov-Effekt.

null

Schon die herausragende Kameraarbeit des mittlerweile 79-jährigen Jürgen Jürges rechtfertigt die Aufnahme in einen Berlinale-Wettbewerb, ebenso der erstaunliche Grad an Naturalismus im Spiel der Laiendarsteller. Besser sollte man sagen: der ehemaligen Laien, denn diese Arbeitsweise macht wohl jeden zum Profi. Insbesondere Natalia Berezhnaya, eine frühere Supermarktassiererin, erreicht eine derartige Präsenz als Kantinenchefin Natasha, dass sie auch das Abbildhafte der Inszenierung überwindet.

Nach der Ausstattung zu schließen befinden wir uns in den frühen fünfziger Jahren. Die drei langen Sequenzen, aus denen der überlange Film besteht, begleiten Natasha bei ihrem Arbeitsalltag in der Kantine, zugleich dem Refugium ihrer bescheidenen Freizeit; einem sexuellen Abenteuer mit einem französischen Wissenschaftler und schließlich in einen KGB-Folterkeller, wo sie ein Offizier mit sexueller Gewalt zu Spitzeldiensten zwingen will. Engste Bezugsfigur ist in den früheren Szenen ihre Assistentin Olga (ebenfalls beeindruckend: Olga Shkabarnya), die sie meistens feindselig behandelt und doch in entscheidenden Momenten ins Vertrauen zieht. So gesteht sie ihr, dass sie von der Zärtlichkeit des Franzosen beeindruckt war, jedoch einen dominanteren Mann bevorzugt hätte. Diese Information scheint für ihre spätere Haltung gegenüber dem Folter-Offizier von Bedeutung. Sind die Avancen, die sie ihm trotz seiner Brutalität macht, wirklich nur eine rettende List? Oder soll hier suggeriert werden, dass es an diesem Mann etwas gibt, das ihrem Männlichkeitsideal nahekommt?

Die bloße Spekulation darüber ist freilich schon geschmacklos, wie auch die explizite, einvernehmliche Sexszene zuvor. Auch wenn es so aussieht, als seien beide Darsteller gedoubelt, ist echter Sex im Spielfilmkontext meistens problematisch. Sicher, man könnte einwenden, warum in einem realistischen Kontext etwas tabuisieren, wenn man sonst bei allem ins Detail geht? Doch explizite Sexszenen eröffnen immer eine voyeuristische Perspektive. Hier fügen sie sich in einen undurchdachten Naturalismus, zu hier ein wenig Dogma, da ein wenig Schauspielworkshop. Hier scheint ein Filmemacher mit Lars von Triers Provokationsfaktor zu liebäugeln, kombiniert mit einer russischen Version des Bunker-Films „Der Untergang“.

Die Szenen sind so lang ausgespielt, dass es scheint, als habe sich der Regisseur auch bei einem Materialberg von 700 Stunden nicht leicht von etwas trennen können. Offensichtlich werden kommende Teile das Werk auf die Dimensionen einer langen Fernsehserie ausweiten. So ist man wieder in einem neuen Wirkungskontext angekommen, für den andere Sehgewohnheiten und Maßstäbe gelten.

Es ist schwer, nach einer einzelnen Folge auf eine Serie zu schließen. Das wiederum wäre ein Grund, sie nicht in einem Wettbewerb für Spielfilme zu schicken. Betrachtet man „Dau.Natasha“ als Einzelfilm, ist er trotz seiner Einzelleistungen in Kamera und Spiel frustrierend, und die spekulative Darstellung von Sex und Missbrauch lässt auf wenig Feingefühl bei anderen, noch unbekannten Teilen hoffen. Ein gewaltiger Filmberg hat, wenigstens für den Augenblick, nur eine Maus geboren.

Auch interessant

Kommentare