1. Startseite
  2. Kultur
  3. TV & Kino

„Das Ereignis“ im Kino: Verschlossene Türen

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Daniel Kothenschulte

Kommentare

Louise Orry-Diquero als Brigitte, Anamaria Vartolomei als Anne und Luana Bajrami als Helene in dem Film „Das Ereignis“.
Louise Orry-Diquero als Brigitte, Anamaria Vartolomei als Anne und Luana Bajrami als Helene in dem Film „Das Ereignis“. © epd

Audrey Diwans historischem Abtreibungs-Drama „Das Ereignis“ gelingt nach dem Buch von Annie Ernaux ein schonungsloses Gesellschaftsporträt von beklemmender Aktualität

Manchmal kann es einem in diesen Tagen vorkommen, als hätte eine längst überkommen geglaubte Vergangenheit ihre kalte Hand auf die Gegenwart gelegt. Mitten in Europa herrscht Krieg, faschistische Ideologien feiern ihr Comeback. Und in mehreren Demokratien, sogar im EU-Land Polen, wird ernsthaft das Recht auf Schwangerschaftsabbruch für praktisch obsolet erklärt.

In ihrem Gewinnerfilm der letzten Festivalausgabe von Venedig setzt sich die Französin Audrey Diwan mit dieser Problematik auseinander: die neuerliche Kriminalisierung von Abtreibung. Die Chronik der verzweifelten Bemühungen einer jungen Frau im Frankreich des Jahres 1963, ihre ungewollte Schwangerschaft zu beenden, könnte sich etwa im Texas des Jahres 2021 genauso wiederholen.

In freundlichen Pastelltönen skizziert der Film zunächst den vielversprechenden Studienbeginn der begabten Anne (Anamaria Vartolomei), einer schriftstellerisch begabten Frau aus der Arbeiterklasse. Wenig später stehen dieselben warmen Farben nur noch für eine Welt, die sich ihr verschließt. Weiter zu studieren als alleinstehende Mutter, wäre in der damaligen Zeit kaum vorstellbar. Eine Abtreibung aber, für sie die einzige Option, würde alle daran auch nur mittelbar Beteiligten mit Gefängnis bedrohen.

Ein scheinbar verständnisvoller Arzt verschreibt ihr ein Mittel, das in Wahrheit lediglich den Embryo stärken soll. Jeder weitere Schritt, den die junge Frau noch gehen kann, setzt sie der Gefahr aus, wenn nicht ihr Leben, so doch ihre Freiheit zu verlieren.

Es hat einige Filme über dieses Thema in der jüngeren Zeit gegeben, aber keinen, den die Einsamkeit der Protagonistin in einer solchen Situation derart wie ein kalter Schauer durchzieht. Im Gegenteil motivieren Geschichten über Abtreibungen im gegenwärtigen Kino oft geradezu Feiern weiblicher Solidarität – wie zuletzt der amerikanische Berlinale-Beitrag „Call Jane“ über eine Selbsthilfegruppe im Amerika der späten Sechzigerjahre.

Die Bedrohung, der sich die Schwangeren und ihre Helferinnen und Helfer in dieser Zeit ausgesetzt sahen, fiel dabei fast unter den Tisch. Auf dem US-amerikanischen Sundance-Festival, wo beide Filme aufeinandertrafen, machte Audrey Diwans Film vielleicht auch deshalb weit größeren Eindruck. Andere Beispiele sind „Porträt einer Frau in Flammen“ oder der US-amerikanische Coming-of-Age-Film „Unpregnant“.

In ihrer Verfilmung des gleichnamigen Buchs von Annie Ernaux (auf Französisch 2000, in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erst im vergangenen Herbst erschienen) dramatisiert die junge Filmemacherin nichts: Die Türen schließen sich leise vor der Protagonistin, während ihre Zeit verrinnt. Freundschaften erstarren in Kälte, selbst wenn sie das Thema nur indirekt anspricht.

Zu den bittersten Szenen gehört jene, in der sich Annes Freundinnen, die sich zuvor besonders freimütig über die Verlockungen der Sexualität ausgetauscht haben, von ihr abwenden. In einer Mischung aus Neid und Angst lassen Brigitte (Louise Orry-Diquéro) und Hélène (Luana Bajrami) Anne allein – und fühlen sich in ihrer Haltung bestätigt, dass Jungfräulichkeit vor der Ehe eine leidige Notwendigkeit sei.

In seltener Konsequenz beschränkt sich Audrey Diwans erst zweiter Spielfilm auf die Protokollierung des Geschehens. Das zeugt von großem Respekt gegenüber der Vorlage und reduziert zugleich die filmischen Mittel auf einen asketischen Realismus. Weder schwelgt „Das Ereignis“ in historischer Ausstattung, noch erliegt Diwan der naheliegenden Versuchung einer zusätzlichen Emotionalisierung. Genau darin liegt die stille Größe ihres Ansatzes.

Wie es scheint, kehrt neben manchem Übel auch etwas Gutes aus der Vergangenheit zurück, ein Filmstil, wie ihn zur Spielzeit der Geschichte Robert Bresson perfektionierte. Diese fast wissenschaftliche Zurückhaltung scheint zudem auch den Stil der Schriftstellerin sehr bewusst zu reflektieren. In Frankreich wurden Annie Ernaux’ Gesellschaftsanalysen schon in den Achtzigerjahren mit dem sozialphilosophischen Werk von Pierre Bourdieu verglichen. Hier gelingt im Filmischen ein fast ethnographischer Blick auf eine nur scheinbar vergangene Lebenswirklichkeit.

In Venedig imponierte diese wirkungsvolle, mitteilsame Zurückhaltung der von Bong Joon Ho („Parasite“) geleiteten Jury, der auch Chloé Zhao angehörte, die oscargekrönte Regisseurin von „Nomadland“. Das Bemerkenswerteste daran, die Leistung der 22 Jahre alten Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei, wurde damals leider nicht gewürdigt. Bereits mit zehn Jahren gab die gebürtige Rumänin, die heute in Paris lebt, ihr Debüt in Eva Ionescos autobiografischem Spielfilm „I am not a F**king Princess“. Es kommt nicht oft vor, dass sich ein außergewöhnliches Talent so früh in solcher Reife zeigt.

Das Ereignis. F 2021. Regie: Audrey Diwan. 100 Min.

Auch interessant

Kommentare