„Chiara“ im Kino: Im Rausch der Wirklichkeit

Der Italiener Jonas Carpignano hat den Neorealismus neu erfunden: In „Chiara“ muss eine 15-Jährige erkennen, dass sie in einer Mafia-Familie lebt.
Manchmal muss man daran erinnert werden, dass der Neorealismus einmal in Italien erfunden wurde. Regisseuren wie Vittorio De Sica oder Roberto Rossellini sei es gedankt, dass die Studio-Kulissenwelt nach dem Krieg vorübergehend gegen bequemen Reiz verloren hatte. Heute ist das nichts Besonderes, in Europa entstehen weit mehr Filme in echten Wohnungen als in Studios. Trotzdem wird die Wirklichkeit darin so selten heimisch wie ein scheues Tier. Und noch seltener wird man in jenen Sog gezogen, der De Sicas „Fahrraddiebe“ oder „Umberto D.“ beim ersten Sehen und auch bis heute innewohnt.
Der 38-jährige Filmemacher Jonas Carpignano macht solche Filme, er entfesselt diesen Rausch der Wirklichkeit, wenn auch ohne De Sicas sozialromantische Patina. Geboren in New York, aber aufgewachsen in einer römischen Familie aus Künstlern, Musikern und Filmemachern (der Regisseur Luciano Emmer war ein Onkel), hat Carpignano mit den ersten drei Filmen seiner Kalabrien-Trilogie den Neorealismus neu erfunden.
Man muss die beiden Vorgänger nicht kennen, um den neuesten, „A Chiara“, zu verstehen, aber man wird sich danach schnell nach ihnen umsehen. „Mediterranea“ handelt von afrikanischen Geflüchteten, die in der Hafenstadt Gioia Tauro von Menschen ausgebeutet werden, die vor ihnen dort ankamen. Der zweite, „Pio“ („A Ciambra“), erzählte von der Suche nach Heimat und Selbstverortung eines Romani-Jungen am selben Ort.
Alle Sicherheiten sind weg
Es scheint nur folgerichtig, wenn das Mittelschichtsmilieu von „A Chiara“ nun die Stadt von ein paar Sprossen höher auf der sozialen Leiter aus einfängt – doch der Schein trügt. Die 15-jährige Chiara, die sich in der ersten Szene am Laufband eines Fitness-Centers abarbeitet und die wir wenig später beim Geburtstag der 18-jährigen Schwester kennenlernen, ist kurz davor, all diese sozialen und familiären Sicherheiten zu verlieren. In der Nacht nach der Familienfeier erwacht sie aus einem Alptraum und sieht ihren Vater über ein Dach flüchten. Sekunden später explodiert sein Auto. Die Erklärung, die ihr die Familie schuldig bleibt, liefert kurz darauf das Internet: Der geliebte Papa, so erfährt sie, ist ein flüchtiger Mafioso.
Swamy Rotolo heißt die Laiendarstellerin, die mit wenigen Gesichtsregungen die Schockstarre vermittelt, mit der man sich in Lebenskrisen durch eingestürzte Welten manövriert. Später wird man keinen Namen so oft im Abspann lesen wie Rotolo: Vater, Mutter, Geschwister – Carpignano lässt ihre Familie von Mitgliedern ihrer eigenen verkörpern. Wann hat man das schon einmal erlebt? Das erklärt die Selbstverständlichkeit dieses erstaunlich unprätentiösen Spiels, die Natürlichkeit des Miteinanders. Dem äußeren Drama wird so alle Expressivität entzogen, fast traumhaft gleitet die Kamera mit Chiara durch ihre haltlos gewordene Umgebung.
Dem Schweigen von Mutter und Schwester folgen eigene Recherchen. Sie findet im Haus einen geheimen Kellerbunker mit allerhand verdächtigem Inventar. Irgendwann wird sie ihren Vater auch selbst ausfindig machen und ihn ängstlich fragen, ob er denn Leute umbringe. Der verneint entschieden. Sein florierendes Geschäft, das Portionieren von Kokain, kann er ihr dagegen demonstrieren: Carpignano zeigt den Umgang mit dem teuren Pulver wie in einem Dokumentarfilm.
Coming-of-Age-Geschichten erzählen meist von ersten Liebesgeschichten oder Schulanekdoten. Man muss schon zu einem literarischen Klassiker des Genres zurückgehen, zu Mark Twains „Huckleberry Finn“, um sich an eine andere Perspektive zu erinnern: Auch der Ekel über die väterliche Existenz kann eine treibende Kraft zum Erwachsenwerden sein. Zu diesem Zeitpunkt der Geschichte hat sich schon das Jugendamt Chiaras Fall angenommen; in Kalabrien gibt es, wie wir erfahren, Programme, um Kinder zwangsweise aus Mafia-Familien herauszuholen. Erst einmal sieht sich das Mädchen freilich durch den Behördenakt selbst in die Flucht getrieben.
Das Ähnlichste, das man an Sozialdramen im Kino sehen kann, sind die Arbeiten der belgischen Dardenne-Brüder. Carpignanos Geschichte besitzt die gleiche, fast archaische Stringenz, doch da ist noch etwas anderes, eine visuelle Poesie, welche die Irrealität von Grenzerfahrungen berührt. Jenen schlafwandlerischen Zustand, in dem man den Boden unter den Füßen wegbrechen sieht und nicht weiß, worauf man sich stattdessen fortbewegt. Das wiederkehrende Motiv des Laufbands im Fitnessstudio mag eine Metapher für den Minimalzustand der Selbstverortung sein, der diesem Mädchen bleibt. Aber es ist dann doch eher eine Geschichte der Selbstfindung als eine des Verlustes – gespielt von diesem Naturtalent freilich ohne alles sichtbar Beherzte, das Kinoheldinnen sonst üblicherweise vor sich hertragen. Was für eine Entdeckung.
Chiara. Italien 2021. Regie: Jonas Carpignano. 122 Min.