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Cannes: Rauschende Bilder

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Von: Daniel Kothenschulte

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„Jeanne du Barry“ von und mit Maïwenn. Stephanie Branchu
„Jeanne du Barry“ von und mit Maïwenn. © Stephanie Branchu

Kino-Lektionen in Cannes: Filme von Maiwenn, Kore-eda, Steve McQueen und Wim Wenders.

Lektionen vom Kino“ nennt Cannes seine ausführlichen Werkstattgespräche mit Leinwandlegenden. Ehrenpreisträger Michael Douglas nahm die Aufgabe beherzt an, indem er sehr ausführlich erklärte, wie man erfolgreich Sexszenen dreht, über die sich später niemand beklagen muss. „Heute brauchen Sie in Hollywood für alles einen Intim-Coach, aber als wir ‚Basic Instinct‘ drehten, gab es diesen Beruf noch nicht. Das Entscheidende ist, die Szenen zu choreografieren wie Kampfszenen. Hier mal Anfassen, dann ‚Kuss-Kuss-Kuss‘, das fängt man ganz langsam an und steigert dann das Tempo. Jeder entscheidet dabei, womit man einverstanden ist. Das Publikum hält es für spontan und leidenschaftlich, aber es ist nur eine Choreografie.“

Tatsächlich sind die Debatten über faire Arbeitsbedingungen bei Filmdrehs nicht nur in Deutschland gerade Thema. Die kanadische Nachwuchsregisseurin Monia Chokri, mit ihrer Romanze „Simple comme Sylvain“ („The Nature of Love“) im Parallelwettbewerb „Un Certain Regard“ vertreten, verlas vor der Premiere ein persönliches Manifest. „Man kann auch Filme machen, ohne jemanden dabei zu quälen“, erklärt sie darin. Tatsächlich merkt man die entspannte Atmosphäre, von der sie bei der eigenen Arbeit überzeugt ist, diesem Liebesfilm augenblicklich an. Was der erotischen Befreiungsgeschichte einer Philosophie-Dozentin, die sich in einen Bauarbeiter verliebt, dagegen fehlt, ist ein gutes Drehbuch: Wie hier jemand Kurse über Liebeskonzepte gibt und privat das Platonische durch etwas mehr Schopenhauer aufpeppt, plätschert spannungsfrei dahin.

Szene des Films „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ von Wim Wenders.
Szene des Films „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ von Wim Wenders. © Road Movies/Festival de Cannes/dpa

Wie viel tiefer noch hatte allerdings zuvor der Eröffnungsfilm die Messlatte des Festivals gesetzt. Regisseurin Maïwenn spielt in „Jeanne du Barry“ selbst die Titelrolle der aus niedrigen Verhältnissen stammenden Geliebten des französischen Königs Louis XV., den Johnny Depp verkörpert. Den Ausstattungspomp mag man für angemessen halten, doch es ist ein unstrukturiertes, ermüdendes Schaulaufen. Depp entscheidet sich bei seinem französischsprachigen Auftritt für einen untadeligen Minimalismus, während sich eine überpräsente Maïwenn verschwenderisch mit unmotivierten Großaufnahmen bedenkt. Ein unterforderter Pierre Richard schmückt als Duc du Richelieu die Besetzungsliste. Überschattet war der unglückliche Auftakt von der Anzeige eines Journalisten gegen die Regisseurin. Wie sie inzwischen selbst bestätigte, hatte sie ihm in einem Restaurant ins Gesicht gespuckt.

Die ersten Wettbewerbsfilme boten da ein anderes Niveau – begeistern konnten sie indes auch nicht. Die Französin Catherine Corsini präsentiert mit „Le Retour“ ein formelhaftes Schwestern- und Sozialdrama vor korsischer Strandkulisse. Vorgezeichnete „plot points“ sind dabei das Auftauchen einer totgeglaubten Großmutter, ein lesbisches Coming-Out, Pistolen in den Händen dummer Strandjungs und ein unglücklicher Drogentrip.

Der japanische Meisterregisseur Kore-eda verspielt dagegen in seinem Schuldrama um einen deprimierten Fünftklässler viel von den emotionalen Qualitäten durch eine komplizierte Zeitstruktur. Das Schönste an „Monster“ ist die Filmmusik, ein Abschiedswerk des verstorbenen Ryuichi Sakamoto, der weite Teile davon auf dem Klavier einspielte.

So waren es zwei Künstlerfilme außerhalb des Wettbewerbs, die an den ersten Festivaltagen den größten Eindruck machten. Der britische Filmemacher Steve McQueen, der schon lange vor Kino-Erfolgen wie „Hunger“ und „Twelve Years a Slave“ ein Star des Kunstbetriebs war, findet mit „Occupied City“ einen gemeinsamen Nenner beider Kontexte. Es ist ein künstlerischer Dokumentarfilm, ein Städteporträt von Amsterdam, wo McQueen seit vielen Jahren lebt. Zugleich ist es ein konzeptuell forderndes Denkmal für den jüdischen Widerstand während der deutschen Besatzung. Jede Szene des mit Pause fast viereinhalbstündigen Filmereignisses führt an Orte, deren Geschichte mit dem Nazi-Terror verbunden ist. Während die Off-Stimme der Drehbuchautorin Bianca Stikter in nüchternem Ton an sie erinnert, zeigt sie McQueens Kamera heute. Dabei gelingt es ihm auch während der Corona-Zeit, eine berührende Lebendigkeit einzufangen. Ein ungemein lohnender Film, und wie alles von diesem Regisseur visuell überragend.

Auch Wim Wenders’ 3D-Dokumentarfilm „Anselm“ ist ein Ereignis: Ein epischer Atelierbesuch, den gewaltigen Dimensionen der Hallen angemessen, in denen der deutsche Künstler Anselm Kiefer seit vielen Jahren arbeitet.

Wenn später ganze private Fotoalben des Künstlers durchgeblättert werden, schließlich mit digitaler Hilfe der Künstler als Seiltänzer zwischen Trümmerdeutschland und Engelshimmel balanciert, ist schnell klar: Wenders und Kiefer, beide Jahrgang 45, haben etwas gemeinsam: Die Abenteuerspielplätze ihrer Kindheit waren die Ruinen eines Krieges, den andere zu verantworten hatten. Deren Schweigen wiederum schuf ein Vakuum, das geradezu einlud, sich eigene Gedanken über ein Element der deutschen Kunst zu machen, das brach lag, wenn es nicht gar mit einem Tabu belegt war: das Pathos.

Zu den Wenigen, die Kiefer sofort verstanden, zählte Joseph Beuys. In einer Spielszene sieht man Daniel Kiefer, der seinem Vater verblüffend ähnelt, einen VW-Käfer mit prallvollem Dachgepäckträger gen Düsseldorf kutschieren. Kiefer als Kind wird in anderen Szenen von Anton Wenders gespielt.

Die kurzen Spielszenen eröffnen eine Ebene der Naivität, die man angesichts der philosophischen Aufladungen des Werkes nicht unbedingt erwartet – aber durchaus anrührend finden kann. Anselm Kiefer selbst kommentiert seine Kunst mit einnehmend gebrochener Stimme, rezitiert Paul Celan und erzählt von einem glücklosen Versuch, Martin Heidegger ein Wort zu seinem Wirken in der NS-Zeit abzuringen.

Wie schon in seinem Tanztheaterfilm „Pina“ nutzt Wenders die 3D-Technik sehr effektvoll, um Kiefers Werke im Raum zu inszenieren. Andererseits nimmt er sich selten die nötige Zeit, einzelne Arbeiten wirklich wirken zu lassen. In jedem Fall beweist Wenders mit der neuesten Filmtechnik – 3D in 6K-Auflösung – dass das Kino den derzeit grassierenden virtuellen Kunstausstellungen noch immer überlegen ist.

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