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Im Odenthal-Tatort „Marlon“ ist fast alles völlig normal

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Von: Judith von Sternburg

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Die merkwürdige Madita, Hanna Lazarakopoulos. Christian Koch/SWR
Die merkwürdige Madita, Hanna Lazarakopoulos. © SWR/Christian Koch

Das Erste zeigt einen finsteren Wie-konnte-es-so-weit-kommen-Tatort aus Ludwigshafen.

Frankfurt - Wenn es im Kriminalfilm um Kinder geht, wird es schlimm und will man eine Erklärung, und zwar für alles. Um selbst nichts zu übersehen, vermutlich, und um es rechtzeitig besser machen zu können. Die Erklärung in der ARD, zumindest die etwas hilflose Spekulation von Ermittlerin Odenthal, Ulrike Folkerts, das wäre alles nicht geschehen, wenn jemand mit dem Kind gesprochen hätte, ist zum Beispiel angesichts der Ereignisse in „Marlon“ etwas dünn.

Auch diagnostisch wirkt es auf psychologische Amateurinnen und Amateure, wie sie zum Tatort (ARD) traditionell zusammenkommen und sich so ihre Gedanken machen, mäßig plausibel, dass sich im Falle von Marlon keine Diagnose ergab.

Odenthal-Tatort „Marlon“(ARD): Mord im bürgerlichen Umfeld

Natürlich haben alle den Film „Systemsprenger“ gesehen, und Drehbuchautorin Karlotta Ehrenberg kann davon ausgehen, dass es ein Grundverständnis für die Vehemenz der Situation gibt. Dass Kinder schreien können zum Glaszerspringen. Dass Erwachsene Angst vor einem achtjährigen Schüler haben. Und mehr noch Angst vor sich selber, weil ein achtjähriger Schüler sie so in Rage bringen kann, dass sie Rot sehen. Während es im Kino aber gerade darauf ankam, die schaurig einsame Welt des Systemsprengers auch losgelöst von Zusammenhängen und Begründungen wahrzunehmen, fällt das beim Sonntagabend-Tatort schwer.

Die Eltern haben eine Buchhandlung, das Umfeld ist bürgerlich, aber wenn lediglich ein grauenhaftes Missverständnis herrschte zwischen Marlon und dem Rest der Welt, warum ließ sich das über die zarten acht Jahre seines von Anbeginn an stressenden und stressigen Lebens nicht ausräumen? Und wenn er – sagen wir mal – Medikamente oder jedenfalls mehr Hilfe als einen überforderten Sozialarbeiter an der Schule gebraucht hätte, wie konnte diese Hilfe ausbleiben? Und eine entsprechende Diagnose nicht gestellt werden? Einerseits fällt das unsagbar tragisch auf die Eltern zurück, über die jenseits ihrer monströsen Überforderung wenig zu erfahren ist. Andererseits auf einen Tatort, der doch vager bleibt, als es ihm bekommt.

Odenthal-Tatort „Marlon“(ARD): Überforderte Mütter

Am Fesselndsten ist die Lesart einer zunächst so nicht erwarteten mehrfachen Eskalation. Auch Erwachsene, das stimmt gewiss, können sich auf ein Kind regelrecht einschießen. An dieser Stelle macht „Marlon“ einen klaren Punkt: Erwachsene dürfen das nicht. Und wenn die Kinder noch so böse sind. Lena Odenthal, im Tatort aus Ludwigshafen etwas ad hoc übrigens selbst als Mensch mit wütender Kindheit gezeichnet, bekommt das gut hin. Ferner trampelt sie allerdings über die Gefühle ihrer jeweiligen Lieblingsverdächtigen hinweg, dass man nur staunen kann.

Besetzung
RolleSchauspieler:in
Lena OdenthalUlrike Folkerts
Anton LeuLudwig Trepte
Madita RitterHanna Lazarakopolos
Marlon JansonLucas Herzog
Pit StanovicFinn Lehmann
Gesa JansonJulischka Eichel
Steffen JansonMarkus Lerch
Oliver RitterUrs Jucker
Sandra BianchiJuliane Fisch
Edith KellerAnnalena Schmidt
Peter BeckerPeter Espeloer
Dr. Hakan ÖzcanKailas Mahadevan

„Marlon“, Sie sehen es, wird es gleichwohl nicht schwerfallen, das Publikum in seine Geschichte zu verwickeln. Vieles ist plastisch und beunruhigend, Isabel Braak inszeniert den Ludwigshafen-Tatort atmosphärisch dicht, darum fallen die Lücken überhaupt ins Auge. Und sie arbeitet mit eindrucksvollen Kindern: Neben Marlon (Lucas Herzog) geht es um seinen besten (einzigen) Freund Pit, Finn Lehmann, und die merkwürdige Madita, Hanna Lazarakopoulos. Durch William Golding und Stephen King ist hoffentlich ohnehin allen klar, dass Kinder unter sich auch nicht im Paradies wohnen.

Odenthal-Tatort „Marlon“(ARD): Odenthals Kollegin bleibt blass

Marlon taucht am Morgen eines Schulfestes auf, an dem er nicht teilnehmen darf. Etwas später liegt er tot am Fuß einer Treppe. Hier finden ihn der pädagogisch fitte Sozialarbeiter, Ludwig Trepte, und Maditas bulldozerhafter Vater, Urs Jucker. Wer das getan haben könnte, fragt Odenthal die verzweifelte Mutter, Julischka Eichel. „Jeder“, sagt die Mutter. Darum gerät im Folgenden auch jeder ordentlich der Reihe nach unter Verdacht.

„Marlon“, in dem neben geforderten und überforderten auch abwesende Mütter vorkommen (beziehungsweise eben nicht), wird nicht zufällig am Muttertag laufen: Familie, ein Feld, über das ein scharfer Wind bläst. Odenthals Kollegin, die Mutter Johanna Stern, Lisa Bitter, bleibt die ganze Folge über blass und beiseite. Sie hat Probleme mit ihrem Ex. Ihr eigener therapeutischer Schreianfall hält sich im Rahmen. Und ganz am Ende wispert Lamb den Song „Lullaby“. Da bleibt immer dieser Nachgeschmack, dass Stimmung her musste, weil die Luft etwas raus war. (Judith von Sternburg)

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