Eine klare Frontstellung war dennoch schnell erkennbar: Die Aussagen der Linken-Politikerin Sevim Dağdelen stießen in der ARD auf Widerstand – oder um die in der Sendung gewählten Worte direkt aufzugreifen auf „Entsetzen“. Sie betonte wiederholt, dass es für Sanktionen jeder Art gegenüber Russland zu früh sei, da man hierfür aktuell zu wenig wisse. Dabei verwies sie darauf, dass nicht nur Russland, sondern auch die Nachfolgerepubliken der Sowjetunion sowie westliche Staaten im Besitz des verbotenen Nervenkampfstoffes Nowitschok sein könnten. Daher sei es verfrüht, neben dem Drängen auf Aufklärung des Anschlags nach weiteren Maßnahmen zu rufen. Schließlich äußerte sie sich empört über das ihrer Meinung nach vorschnelle Verurteilen des Kremls.
Eine denkbar eindeutige Reaktion lieferte in der ARD Jürgen Trittin: „Man muss sich ja nicht dümmer stellen, als man ist“. Für ihn stellt sich die Situation eindeutig dar: Bei dem Anschlagopfer handelt es sich um einen russischen Oppositionellen, der in Russland vergiftet wurde. Daher sei es nur konsequent, nach Russland zu blicken. Dabei betonte er allerdings, dass niemand genau sagen könne, wer für den Anschlag verantwortlich sei. Sarah Pagung fügte dieser Argumentation bei, dass zwar keine Beweise für eine Verwicklung des russischen Staates vorlägen, aber dafür viele Hinweise. Dabei machte sie zum einen auf den unverkennbaren Umstand aufmerksam, dass bereits eine gewisse Historie ähnlicher Fälle vorläge, der chemische Nervenkampfstoff Nowitschok* noch im russischen Besitz sei und dieser auch nicht einfach auf dem Schwarzmarkt verfügbar sei.
Erwartungsgemäß lenkte Anne Will das Gespräch schnell auf die Frage, welches Interesse Putin an der Vergiftung eines Oppositionellen haben könnte. Norbert Röttgen argumentierte, dass es dabei um die „Entsendung einer Botschaft“ ginge. Ein solcher Angriff solle eben nicht im Geheimen passieren, sondern als Drohgebärde fungieren: „Wir kriegen euch und es wird kein einfacher Tod sein“. Auch für den konkreten Zeitpunkt der Vergiftung des Oppositionellen Nawalnys führt er ein Argument an: Angesichts der Proteste in Weißrussland bestehe in Russland die Gefahr, dass der „Freiheitswille“ des Volkes überschwappe. Ischinger stimmte ein.
Dabei betonte auch er, dass kein Schuldiger direkt ausgemacht werden könne – ob es nun Putin war, der den Befehl gegeben hat oder ob es im Zusammenhang eines „vorauseilenden Gehorsams“ ein Agent des russischen Geheimdienstes war, könne man laut ihm nicht sagen. Im gleichen Atemzug wendete er sich direkt gegen Dağdelen. Es habe prinzipiell niemand behauptet zu wissen, wer genau für den Anschlag verantwortlich sei. Spätestens bei dem Wort „Verschwörungstheorien“ als Bezeichnung ihrer Aussagen schaltete Dağdelen sich schließlich ein. Ohne das nötige Wissen seien Spekulationen nicht angebracht. Sie fordere eine Aufklärung des Verbrechens, das sie mit den recht pathetisch wirkenden Satz „Ich bin auf der Suche nach der Wahrheit“ abrundete.
Schließlich ging es nochmal um die weiteren Handlungsoptionen der Bundesregierung. Anne Will verwies auf die scharfe Reaktion der Bundeskanzlerin Angela Merkel und fragte nach deren Konsequenz für den weiteren Handlungsspielraum der Regierung. Pagung stellte heraus, dass Merkels Aussagen in Bezug auf die Vergiftung des russischen Oppositionellen Nawalny in der Tat verhältnismäßig scharf waren, was einen gewissen Handlungsdruck nun mit sich bringe. Im Gespräch sei der Stopp des Baus der Nordstream 2. Laut Ischinger sei der Einsatz der Nordstream 2 als Druckmittel eine unangenehme Angelegenheit – beim Auslassen derselben würde sich die Bundesregierung allerdings unglaubwürdig machen. Röttgen sieht die Drohung des Stopps des Baus der Nordstream 2 als geeignetes Mittel. Auf diese Weise würde die Bundesregierung mit einer „Sprache antworten, die Putin versteht“. Und diese sei „die Sprache des Geldes, des Gases und der Macht“. Erfahrungen hat man diesbezüglich in der Tat schon sammeln können.
Eine grundsätzlich andere Meinung vertrat erneut Dağdelen: Mit dem Stopp des Baus der Nordstream 2 würde sich Deutschland zum „Erfüllungsgehilfen“ Donald Trumps* machen, der gegen das Großprojekt wettert, und die steigenden Gaspreise müssten schließlich die Verbraucher tragen. Trittin ließ sich dabei nicht die Möglichkeit nehmen zu betonen, dass die Grünen das Bauprojekt der Nordstream 2* „von Anfang an als überflüssig“ angesehen hätten und dass das eigentliche Problem in der fossilen Abhängigkeit Deutschlands bestehe. Ein gutes Argument für eine Diskussion mit einem anderen Schwerpunkt. Anstelle der Nordstream 2 biete sich laut Trittin eine ganz andere „Antwort“ an: Die konsequentere Überprüfung des Vermögens russischer Oligarchen in Europa. Im gleichen Atemzug verwies er dabei auf die Korruption, die der vergiftete Oppositionelle Nalwany in aufwendigen Dokumentationen offengelegt habe. Ein im Sinne Nawalnys wohl konsequenter Gedanke.
Sarah Pagung spielt schließlich alle Möglichkeiten der Antworten durch. Dabei verwies sie auf einen wichtigen Umstand: Im Falle von Sanktionen müssen diese mit „klaren und realistischen Forderungen verbunden werden“. Die Frage nach der grundsätzlichen Veränderung des deutsch-russischen Verhältnisses beantwortete schließlich Ischinger. Dabei griff er ein zentrales Argument auf, das er bereits ganz zu Beginn der Sendung angeführt hat: Die aktuelle Situation ist nicht als deutsch-russischer Konflikt zu verstehen. Daher müsse auch keine „deutsche“, sondern eine „europäische Entscheidung“ getroffen werden - eine Aussage, die auf keinerlei Kritik stieß. (Von Astrid Theil) *fr.de ist Teil des bundesweiten Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerks.