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Melnyk gegen Welzer bei „Anne Will“ – Wer ist hier borniert?

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Von: Martin Benninghoff

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Anne Will
Andrij Melnyk (l.) und Harald Welzer (r.) waren bei „Anne Will“ in der ARD zu Gast. © Fotos: Jürgen Heinrich/Imago Images | Collage: IPPEN.MEDIA

Bei der ARD-Sendung „Anne Will“ üben sich Botschafter Melnyk und der Soziologe Welzer in wortreicher Diskursverweigerung.

Ausgerechnet eine Talkshow führt die deutsche Debatten-Sprachlosigkeit vor. Es ist eine wortreiche Sprachlosigkeit, die viel über nachlassende Diskursfähigkeit aussagt. Für Twitter ist das kein neuer Befund, aber jetzt hat es das Fernsehen erwischt - und damit die ältere Generation.

Sonntagabend, in der ARD-Sendung „Anne Will“: Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk trifft auf den deutschen Soziologen Harald Welzer. Melnyk steht in der Kritik, weil er die ukrainische Sache – maximale Unterstützung seines Landes im Krieg gegen Russland – maximal vertritt. Welzer steht in der Kritik, weil er einer der Erstunterzeichner von Alice Schwarzers Friedensappell in der „Emma“ ist, in dem die Autor:innen vor einer Entgrenzung der Gewalt warnen, wenn die Ukraine weiter mit schweren Waffen beliefert wird.

ARD-Sendung „Anne Will“: Abgehobener Akademiker trifft auf bornierten Botschafter

In der Kombination könnte das ein interessanter Austausch von Argumenten werden. Doch dazu kommt es kaum. Melnyk wirft Welzer „moralische Verwahrlosung“ vor, weil er den Schwarzer-Appell als Aufforderung zur Kapitulation versteht. Der Soziologe beschimpft den Botschafter: „Seien Sie nicht so borniert.“ Da hatte Welzer vor „permanenter Aufrüstung“ gewarnt und einer Pattsituation zwischen Russland und der Ukraine, der ein jahrelanger Zermürbungskrieg folgen könnte. Was Melnyk seinerseits als „völlige Illusion“ bezeichnet. „Es ist einfach für Sie, in Ihrem Professorenzimmer zu sitzen und zu philosophieren.“

TV-Kritik zu „Anne Will“

Botschafter Melnyk bei Anne Will unzufrieden: „Haben uns mehr Waffen gewünscht“

Abgehobener Akademiker trifft auf bornierten Botschafter - damit konzentrieren sich die beiden auf den Austausch von Unverschämtheiten. Für den Soziologen ist es Anlass genug, grundsätzlicher auf die Kommunikationsebene zu wechseln. Er wirft Melnyk vor, „unglaublich offensiv mit Gesprächspartnern“ umzugehen. „Wo nehmen Sie es her, dass Sie über die Motive von Menschen einfach urteilen?“, fordert er den Botschafter heraus.

Damit kippt der Streit vollends in eine unsachliche Aneignungsdebatte, wie sie auf Twitter geführt wird. Im Kern geht es um die Frage: Ist es mir erlaubt, über ein Thema zu urteilen oder auch nur zu sprechen? Ist es mir erlaubt, über Rassismus zu sprechen, wenn ich selbst nicht betroffen bin, weil ich ein weißer Mann bin? Übertragen auf den Ukraine-Konflikt: Kann ich mich in einen Diskurs einschalten, wenn ich selbst gar nicht betroffen bin - erst recht im Gespräch mit einem Mann wie Melnyk, dessen Heimat in Schutt und Asche gelegt wird und dessen Familie in Angst lebt?

„Anne Will“ im Ersten: Botschafter nutzt Gerhard-Schröder-Taktik

Mit dem Hinweis auf das „Professorenzimmer“ reißt der Gesprächsfaden: Der Botschafter bedient sich eines rhetorischen Kampfmittels, das Gerhard Schröder einst perfektionierte: Der hatte Angela Merkels Finanzexperten Paul Kirchhof als „Professor aus Heidelberg“ verunglimpft und damit zum realitätsfernen Aktenkauz geschrumpft.

Welzer kontert mit einer Legitimationsrede auf die Weltkriegserlebnisse deutscher Familien, die noch bei den Kindern und Kindeskindern wie ihm präsent seien, da spricht der Sozialpsychologe. Und: „Wir sprechen als Mitglieder dieser Gesellschaft vor dem Hintergrund der eigenen Kriegserfahrungen.“

Das treibt Melnyk zur Weißglut, der darin eine Täter-Opfer-Umkehr sieht: Zehn Millionen Ukrainer:innen seien vernichtet worden - auch durch „Ihre Vorfahren“. Welzer verweist kühl auf die eigene Publizität: Eines seiner Bücher widmet sich der Frage, wie gewöhnliche Menschen während des Nationalsozialismus zu Massenmördern wurden.

Ach ja, mit Kevin Kühnert, Britta Haßelmann und Ruprecht Polenz sind übrigens noch andere Gäste dabei. Aber die werden immer stiller angesichts solcher Dialoge. Welzer: „Bleiben Sie beim Zuhören.“ Melnyk: „Ich bin kein Student.“ Welzer: „Und ich bin nicht Ihr Irgendwas.“ (Martin Benninghoff)

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