Zwilling

Auf einer virtuell kopierten Erde könnte ein KI-generierter Avatar stellvertretend für uns wichtige Lebenserfahrungen sammeln. Also, zumindest ist das nicht abwegig. Oder? Die Kolumne „Times mager“.
Auf der – wahrscheinlich relativ leeren – Autobahn, Mitte der 80er: Der rot-gelbe Atomkraft-Nein-danke-Aufkleber am Heck, am Steuer wird geraucht. Man kurbelt das Fenster runter, um sich den Fahrtwind um die Nase wehen zu lassen, es ist wirklich heiß – allerdings bestimmt lange nicht so heiß wie heute, aber Klimaanlagen gab’s halt auch noch nicht, oder zumindest reichte ihr Gebläse nicht bis auf die Rückbank. Mit einem Plopp öffnet man die Kappe des orangefarbenen Tupper-Trinkbechers. Der Orangensaft ist teewarm und hat diesen speziellen, muffigen Plastikbeigeschmack. Es geht in den Urlaub! Das sind authentische Erinnerungen, obwohl, gut, etwas verdichtet und mit Wahrscheinlichkeiten aufgefüllt, mithilfe hirninterner Algorithmen.
Tupperware steht vor der Pleite, Kernkraft ist vom Netz – zumindest in Deutschland. Und vielleicht, vielleicht hätten diese Dinge in einer virtuell kopierten Welt niemals existieren dürfen. Die EU arbeitet gerade an einem digitalen Zwilling der Erde, „Destination Earth“ heißt das Projekt. „Es wird dazu beitragen, natürliche und menschliche Aktivitäten zu überwachen, zu modellieren und vorherzusagen sowie Szenarien für eine nachhaltigere Entwicklung zu entwickeln und zu testen“, heißt es auf der Website. Man könne mit dem virtuellen Erdzwilling die Vergangenheit analysieren, die Gegenwart überwachen und die Zukunft voraussagen.
Was könnte damit alles möglich werden – es ließen sich Millionen Leben retten! Eine Naturkatastrophe wie im Ahrtal oder weltweite Fluchtbewegungen ließen sich voraussehen. Kriege brauchte man gar nicht erst zu führen, weil der Ausgang digital berechnet wird (wobei man sich auf einen Algorithmus einigen müsste). Rückblickend hätten Atomkraftwerke wohl nie gebaut werden und Tupperware hätte es vielleicht auch nicht geben dürfen – wobei man die Plastikproduktion mit den Unmengen an Alu- und Zellophanfolie gegenrechnen müsste, in die Butterbrote alternativ eingewickelt worden wären …
Was könnte man auf persönlicher Ebene alles rausholen – denn eine virtuelle Welt wird verdammt sicher nicht lange ohne Individualinteressen existieren. Ein mit individuellen Echtzeitdaten gefütterter digitaler Zwilling, eine Art Second-Life-Avatar der KI-Generation, könnte das eigene Leben auf der virtuellen Erde simulieren und berechnen, wie sich Entscheidungen auf die Lebensqualität auswirken. Man könnte sich so ziemlich viele Erfahrungen sparen, lange Autofahrten mit warmem Plastik-O-Saft in einen Urlaub, von dem man noch gar nicht weiß, ob er wirklich gut wird … Wobei: Das war ja gerade das Abenteuer. Und wenn nicht mit echten Abenteuern – mit welchen Daten sollte man den digitalen Zwilling sonst füttern?