Zum Knicken

Warum kann nach Weihnachten nicht gleich wieder Weihnachten kommen? Das Kind fragt ganz zu recht.
Guck mal“, sagt die ältere Dame zu ihrer Begleiterin vor dem Schaufenster, „jetzt guck doch mal, die haben schon fürs Frühjahr dekoriert.“ Ihre Stimme klingt tadelnd, aber ist sie womöglich insgeheim froh, ist nicht schon die Aussicht auf „Frühjahr“ in diesen Zeiten eine Verheißung? Sehr vernünftig sagt denn auch die Begleiterin: „Wegen dem Klima wird der Frühling schneller kommen, als du meinst. Ein paar Wochen, dann ist er da.“ So schnell gibt die ältere Dame nicht auf: „Dabei haben wir noch gar keinen Winter gehabt, also keinen, der diesen Namen verdient.“
Dinge, die ihren Namen nicht verdienen (Sommer, Party, Urlaub) vermehren sich in diesen Jahren wie die ... Kaninchen? Oder verdienen auch die Kaninchen in Sachen Vermehrung vielleicht ihren Namen gar nicht mehr? So dass die Auslieferung von Ostereiern zunehmend zum Problem werden wird, weil die Lieferkette vom Hühnerstall über die künstlerische Bearbeitung bis ins Osternest Lücken bekommt. Wobei wir keineswegs Kaninchen und Hasen in einen Topf werfen wollen. Letztere schon gar nicht, also in einen Topf, denn auch sie werden immer weniger.
Wann ist das nächste Weihnachten?, fragt das Kind nach diesem Weihnachten. In einem Jahr, sagt die Erwachsene. Um völlig unnütz hinzuzufügen: Na ja, kein ganzes Jahr mehr, ein paar Tage sind ja schon vergangen. Das Kind verzieht das Gesicht – ach, Tante! – und das zu Recht, denn wie soll es sich erstens ein Fast-Jahr vorstellen, wenn es noch so wenig Erfahrung mit Ganz-Jahren gemacht hat? Bloß fünf Erfahrungen, um genau zu sein.
Wie soll das Kind zweitens verstehen, warum diese Erwachsenen so ein Jahr zwischen Weihnachten und dem ersehnten nächsten Weihnachten nicht einfach beschleunigen, wenn sie es doch selber blöd finden und zum Teufel wünschen. Jedenfalls sagen sie in diesen Tagen Sachen wie: Dieses Jahr war ja schon wieder zum Vergessen. Oder: Dieses Jahr kann man echt knicken.
Wenn sie so eine furchtbar lange Zeit falten können, könnten sie dann nicht auch ein ganz kurzes Jahr beschließen? In dem gleich nach dem Geburtstag der Nikolaus mit den Lebkuchen käme und dann das Christkind? Und dann wieder der Geburtstag?
Wie ist das also mit 2021? War es vielleicht ein Jahr, das seinen Namen nicht verdient? Das man aus dem Kalender streichen sollte? Aber da 2020 ja auch schon ein Jahr war, das man aus dem Kalender streichen sollte, wird die Lücke dann nicht allzu groß?
Das Kind ist misstrauisch, was hat die Tante da vor? Knicken? Streichen? Könnte es passieren, dass Weihnachten dabei beschädigt wird? Das Christkind muss doch noch ein paar Playmobil-Pferde bringen, damit alle, auch die Erwachsenen, bis in ein besseres Jahr reiten können.