Zeitung

Zeitungen aus Papier haben Vorteile, aber nicht nur.
In der Neuen Nationalgalerie in Berlin längere Zeit vor Josef Scharls „Zeitungsleser“ gestanden, aus gegebenem Anlass melancholisch, eigentlich nicht einmal melancholisch, sondern traurig, eigentlich nicht einmal traurig, sondern schlechter Laune, eigentlich nicht einmal schlechter Laune, sondern verzweifelt. Egal.
Dabei ist es ein die Sinne ansprechendes Bild. Man gewinnt zwar nicht direkt den Eindruck, dass der Mann tatsächlich in die Zeitung starrt – und die hat man doch oft verfolgt, solche Blicke, geschaut, wo das Auge gegenüber in der Bahn hinfällt, welcher Artikel das sein müsste, welches Ressort, das ist doch nur ein paar Jahre her, höchstens –, eher guckt er über sie hinaus. Er sitzt auf einem groben Holzstuhl mit bequem großer Sitzfläche, er selbst ist ebenfalls ausladend, kein Gentleman, der schlaff in der „Times“ blättert, sondern einer, der wissen will, was los ist. Er muss sich zudem breitmachen, um die Zeitung so zu halten, wie es sich für eine Zeitung gehört: auf-, nicht umgefaltet. Am Boden knäueln sich Seiten. Es ist eine Kunst, eine Zeitung zu halten, aber einige missachten sie mit Absicht, konzentrieren sich auf den einen Text, der sie jetzt interessiert. Dann ist eine Zeitung zwar an der entsprechenden Stelle biegsam, aber die übrigen Seiten klappen störrisch nach hier und dort. Wie ein patentgefalteter Stadtplan.
Ein patentgefalteter Stadtplan spielte auf der Welt auch schon eine größere Rolle als heute. Und die Arzthelferin, die einem vor der Ultraschalluntersuchung das große weiße Papiertuch in den Ausschnitt steckt, erwähnt Wilhelm Busch und sagt: Bei diesem Namen guckten sie jüngeren Patientinnen und Patienten groß an. Und man guckt sie groß an und überlegt, ob sie nicht doch den Struwwelpeter meint. Egal.
So bewegen wir uns täglich in einer Welt der verloren gehenden Dinge. Zugleich, keine Sorge, kommt ständig eine Menge nach. Andererseits weiß der Verwandte, der komplett aufs E-Paper und die App umgestiegen ist (super Angebote, wir stehen total dahinter, schauen Sie mal rein, probieren Sie es aus), nicht mehr, wie er rasch einen Fisch einwickeln soll.
In der Serie „Der junge Inspektor Morse“, die an dieser Stelle bereits empfohlen wurde, insofern sind Sie inzwischen längst auf dem Laufenden, ist die papierene Zeitung das Informationsmedium Nummer ein. Die äußerst hingebungsvolle und zugleich abgebrühte Redakteurin der „Oxford Mail“ schickt Morse gelegentlich ein Exemplar aus dem Archiv, in dem er wichtige Sachen nachlesen kann, und wirklich nur dort.
In einer Folge kommt auch bereits ein Computer vor. Der Computer wird etwas gefragt, dann gehen alle nach Hause, und einen Tag später hat er eine Antwort gefunden. Morse kann sich inzwischen dem Kreuzworträtsel in der Zeitung widmen. In kurzen Phasen passt immer alles ausgezeichnet zusammen.