Zauber

Wie waren sie denn nun, die 50er Jahre? Eine bleierne Zeit, eine Zeit des Neubeginns? Die Kolumne „Times mager“.
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Das dichtete nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein gewisser Hermann Hesse. Nicht alle fanden das gut von ihm. Man sagte ihm nach, die Verbrechen der Nazi-Zeit damit übertünchen zu wollen, da er so tue, als könne man einfach alles hinter sich lassen. Ob dieser Vorwurf gegen Hesse berechtigt ist, möge an dieser Stelle offen bleiben.
Doch nun haben Historiker die These aufgestellt, dass der Nachkriegszeit, genauer den 1950er Jahren in der Tat ein gewisser Zauber innegewohnt habe. Und der habe für einen stetigen Reformwind und Veränderungsdrang gesorgt, was schließlich zu der modernen Gesellschaft geführt habe, in der wir heute leben. Man staunt und schüttelt sich. Denn es war die Zeit des Kanzlers Konrad Adenauer, über die hier gesprochen wird. Und dieser stand mehr als alle anderen für die Kontinuität, die aus der Nazi-Zeit in die neue und junge Demokratie hinein wirkte. Nicht allein der junge Jürgen Habermas empörte sich in den 50er Jahren über ein Übermaß an Vergesslichkeit, was die Verbrechen zwischen 1933 und 1945 betraf und den Umgang, den er und seine Zeitgenoss:innen in der Bundesrepublik mit den Fragen nach Schuld und Sühne erlebten.
Adenauer betrieb stattdessen eine Politik der Normalisierung. Er war ein Mann ohne jeden Kontakt zu den Erfahrungen und Erwartungen der jüngeren Generationen, die sich Antworten erhofften angesichts der Morde und Zerstörungen ihrer Vorgänger-Generation. Adenauer jedoch zeigte sich vollständig unempflindlich gegenüber den mentalen Schäden einer unter seinen Fittichen gedeihenden Restauration der Gesinnungen - „und nicht nur der Gesinnungen“, erkärte Habermas in einem Rückblick auf seine jungen Jahre.
In die Haushalte kehrte eine neue Biedermeier-Zeit zurück. Man machte es sich gemütlich. Nicht mehr der Staat, sondern die florierende Wirtschaft war nun Subjekt des Nationalstolzes. Politischer Aufbruch? Keine Spur davon. Stattdessen gab es die Kontinuitäten jener Personen aus der NSDAP in den Parteien, vor allem in der CDU und FDP. Und die SPD versuchte sich an einer unzeitgemäßen Entdeckung der nationalen Frage. Das schreckte nicht nur Habermas als eine eher links stehende politische Natur ab.
Die Auschwitz-Prozesse zu Beginn der 1960er rüttelten viele Menschen auf. Fritz Bauers Arbeit sei hier eigens hervorgehoben. Einige Jahre später stand Habermas als Dozent im Hörsaal und diskutierte mit jüngeren Menschen über genau diese Themen, die ihm in den Anfangsjahren so bitter aufgestoßen waren. Wenn man so will, wohnte diesem Anfang doch ein gewisser Zauber inne. Aber ein anderer, als ihn damals viele in Hesses Zeilen sehen wollten.