„Woke“: Das neue Schimpfwort der Konservativen

Das Geschimpfe konservativer Medien über dieses Wort ändert nichts an der Notwendigkeit von „Wokeness“. Aber das heißt nicht, dass das als besonders schönes Wort durchgehen könnte.
Sie werden Rusty nicht kennen, er ist erst seit Anfang dieses Jahres auf der Welt und seit Anfang dieses Monats im Internet. Rusty ist Rüde, „wird wahrscheinlich klein bis mittelgroß“, bewohnt ein Tierheim in Ungarn und sucht ein Zuhause, „in dem er umsorgt und geliebt wird“. Und das Tolle: Rusty ist „ein aufgewecktes Kerlchen“.
Es erstaunt, wie häufig die Formulierung „aufgewecktes Kerlchen“ im Internet für Tiere verwendet wird, aber es geht auch für Kinder männlichen Geschlechts, die wach und fröhlich durch die Gegend laufen. Nun glauben Sie bitte nur nicht, die englische Übersetzung hieße „woke“, auch wenn Sie dieses Wort jetzt ständig lesen.
Und schon ist „woke“ zum Schimpfwort geworden
„Woke“ ist mehr als „aufgeweckt“, es beschreibt die erhöhte Wachsamkeit für Diskriminierungen aller Art, und weil das so ist, hat es nur eines Wimpernschlags der Geschichte bedurft, bis „woke“ zum Schimpfwort für „identitätspolitisch veranlagte Aktivisten“ wurde, wie die Neue Zürcher Zeitung erst kürzlich wutzuschnauben beliebte. Dass das Schweizer Flaggschiff des Konservatismus die politische Haltung der „Aktivisten“ gleich zur Veranlagung erklärte, ist auch eine schöne Variante von Identitätspolitik.
Aber das nur nebenbei, viel schöner macht es die Bild, die „gefühlt“, wie es heute heißt, alle fünf Minuten Alarm schreit: „7 schräge Sätze aus dem ,Woke‘-Kosmos – Bei vielen Sätzen, die im Woke- und Gender-Kosmos heiß diskutiert werden, verstehen vor allem Ältere nur Bahnhof“, und das ist ja dann in der Tat ein Missverständnis.
Oder, noch besser: „Woke*-Wahnsinn – Wie wache* Aktivisten bestimmen wollen, was wir noch sagen und tun dürfen“. Beachten Sie bitte die Alliteration: vier Wörter mit „W“ am Anfang! Und „linke“ Menschen, die dem ausgebeuteten Proletariat wenigstens seinen angeblichen Besitz an Gleichgültigkeit oder Abwehr gegenüber Minderheiten lassen wollen, singen tapfer mit. Sahra Wagenknecht lässt grüßen.
Geschimpfe ändert nichts an der Notwendigkeit von „Wokeness“
Das Geschimpfe ändert ja nichts an der Notwendigkeit von „Wokeness“, aber das wiederum heißt auch nicht, dass „woke“ als besonders schönes Wort durchgehen könnte. Vor allem wenn es im Deutschen gebeugt wird, auch von den „Woken“ selbst, entsteht ein gewisser Dehnungsschmerz („Wir müssen noch woker sein“ etc.).
Ja, sprachlicher Plunder ist halt nicht auf die Management-Szene begrenzt, deren „Business Bullshit“ der Journalistenkollege Jens Bergmann gerade in einem wunderbaren Buch entlarvt hat (Duden-Verlag). Bergmann schreibt: „Wer seine Organisation wirklich davon freihalten möchte, braucht eine gewisse Distanz zum eigenen Tun, auch ,Humor‘ genannt.“ Das wäre mal eine Idee für alle. (Stephan Hebel)