Wahr

Auf der Höhe von Sokrates? Vom wahr sagen und wahrsagen. Die Kolumne „Times mager“.
Unangenehm ist es, den Satz „Ich weiß es nicht“ auszusprechen, für Hobby-Philosophen und -innen: „Ich kenne die Wahrheit nicht.“ Nun kommt es nach Beobachtungen dieser Zeitung immer häufiger vor, dass Menschen nicht sagen „Ich weiß es nicht“, sondern „Ich weiß es tatsächlich nicht“, auf hobbyphilosophisch: „Ich kenne die Wahrheit tatsächlich nicht.“
Was also ist wahr, respektive Tatsache? Könnte es nicht gleich heißen: „Wahr ist, dass ich die Wahrheit nicht kenne“? Die Tatsache als solche nämlich ist mit der Wahrheit verwandt: Wer etwas als „Tatsache!“ ausruft, kann genauso gut „Wirklich wahr!“ sagen (Wörterbuch).
A propos „wahr sagen“ (kleiner Exkurs): Haben Sie in der „Zeit“ gelesen, dass bei einer AfD-Abgeordneten im Bundestag mal eine Wahrsagerin angestellt gewesen sein soll? Als Sachbearbeiterin? Oder war sie gar Tatsachen-Bearbeiterin? Immerhin kann den Gebrüdern Grimm zufolge mit „Wahrsagerin“ tatsächlich gemeint sein, dass eine Person „die Wahrheit sagt“.
Das würde allerdings bedeuten, dass bei der AfD im Bundestag „zwischen Juli und Oktober 2021“ („Zeit“) so etwas wie die Wahrheit zu Gast war. Halten wir uns also an die gängigere Bedeutung des Wortes „Wahrsagerin“ und sprechen von einer Person, die „die Zukunft voraussagt oder Verborgenes aufhellt“ (Wörterbuch). Das haut aber auch wieder nicht ganz hin, denn das Verborgene hat erst die Polizei aufgehellt, als sie sowohl die Wahrsagerin als auch die Abgeordnete, für die sie gearbeitet hatte, wegen Terrorverdachts einbuchtete. Das war diese Geschichte mit dem Prinzen, der irgendwie putschen wollte, da sollen die beiden dabeigewesen sein. Ende des Exkurses.
Wenn nun also jemand statt „Ich weiß es nicht“ sagt „Ich weiß es tatsächlich nicht“, ist das zunächst hobbyphilosophisch betrachtet problematisch, aber auch spannend, denn die Person sagt wie gesagt quasi: „Die Wahrheit ist, dass ich die Wahrheit nicht kenne“, womit sie sich entweder in einem hoffnungslosen Widerspruch befindet oder auf der Höhe von Sokrates („Ich weiß, dass ich nichts weiß“).
Andererseits kann es auch sein, dass die Person mit dem Zusatz „tatsächlich“ ein gewisses Erstaunen über ihr eigenes Nichtwissen zum Ausdruck bringen will, so wie wenn jemand nicht sagt: „Faschistoide Kreise glauben an Wahrsagerinnen“, sondern „Faschistoide Kreise glauben tatsächlich an Wahrsagerinnen.“ Sie merken, das ist etwas ganz anderes: Wer „tatsächlich“ einfügt, hat an die eigene Tatsachenbehauptung noch vor Minuten tatsächlich nicht geglaubt. Wenn also diese Person mal nichts weiß, seien Sie so freundlich und staunen Sie mit ihr darüber.