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Times mager
Unvermögen
- vonJudith von Sternburgschließen
Was haben Fußballwetten und Bücherlesen miteinander zu tun? Lesen Sie selbst.
Jenseits der FR-Fußballwetttabelle gibt es wenig, das eine Privatperson in diesen Tagen demütiger stimmen kann als die gewaltigen Stapel an Katalogen, die die Bücherneuheiten für das Frühjahr annoncieren. Nun ist die FR-Fußballwetttabelle vom Glück oder Schicksal bestimmt. Dass sie einem eine lange Nase drehen, ist bitter, aber unabänderlich. Unsereiner liest nicht weniger intensiv den FR-Sportteil, um sich auf dem Laufenden zu halten, spitzt, wann immer es möglich ist, die Ohren bei der DVAG-Halbzeitanalyse (war Deutsche-Vermögensberatung-Halbzeitanalyse nicht doch treffender?) des entsprechenden Bezahlsenders und lässt zuweilen einen Pingpongball auf den Schreibtisch fallen, um das Ballgefühl nicht zu verlieren. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass das Sport- und das Feuilletonressort in der Redaktion früher nebeneinanderlagen. Da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen. Aber nimmt das wirklich Einfluss auf die Tipps?
Bei den Katalogen für das Frühjahr hingegen hat jeder sein Glück selbst in der Hand. Man hätte bereits im Frühherbst mit dem Verfertigen einer riesigen Liste, bereits im Spätherbst mit der Lektüre beginnen können. Besser wäre es freilich gewesen, schon im Sommer oder im Idealfall im vergangenen Frühling damit anzufangen. Jetzt werden Pfiffige einwenden: Aber wie hätte denn das gehen sollen? Und da treffen sie den Nagel auf den Kopf. Geholfen hätte es dennoch, während für eine Wende auf der FR-Fußballwetttabelle ungefähr 15 mitwettende Personen den Januar und Februar über Ferien in einem gewaltigen Internetloch machen müssten, ohne vorher gewettet zu haben. Das würde das Erscheinen der FR gefährden und ist überhaupt noch viel unwahrscheinlicher als eine ausgedehnte Lektüre. Das Corona-Jahr zeigt zwar einen Anstieg des persönlichen Bücherkonsums um circa 20 Prozent. Aber die Mengen, über die wir hier sprechen, bewegen sich in einer anderen Liga.
Der britische Popmusiker und -produzent Tony Mortimer (von der 90er-Jahre-Boygroup East 17) wurde im „Guardian“ kürzlich als Neuleser vorgestellt, der im Lockdown die Welt der Literatur entdeckte. Mit 50 haut er nun Sätze heraus wie: „Die Wendungen, die Beschreibungen, die Metaphern, es beflügelt deine Fantasie wie kein anderes Medium! Es lässt deine Sorgen verschwinden!“ 70 Bücher hat Mortimer 2020 gelesen, „Harry Potter“, Charles Dickens, Tolkien, Agatha Christie. „O Gott, sie ist ein Genie.“ Es gibt keinen Grund, sich darüber lustig zu machen, im Gegenteil, man schwankt zwischen Mitleid (so viel Zeit verplempert) und Neid (so viele Höhepunkte vor sich).
Wenn es zum Beruf gehört, Menschen zum Lesen zu animieren, ist das auch bitter. Worüber reden wir hier den ganzen Tag?