#Sylt

Die Twittercommunity will Sylt kapern. An lustigen Ideen mangelt es nicht. Andererseits: Schlingensief in St. Gilgen war seinerzeit deutlich kühner.
Champagner-Binge-Drinking und den Bonzen den Hummer vom Teller schlagen, im Feinripp-Unterhemd, mit Bierhelm auf dem Kopf und Bild-Zeitung unterm Arm am Strand den Proll raushängen lassen – nein, das sind keine Szenen aus der TV-Serie „New Kids“, auch nicht aus einer „Flodder“-Episode. Mit solchen Visionen bereitet die Twittercommunity ihren „Einmarsch“ auf Sylt vor, was angesichts der Weltlage ziemlich bizarr ist. Auf der Plattform hat sich mal wieder ein kollektives Ideensammeln ergeben, diesmal unter den Hashtags #SyltEntern und #Syltokalypse. Anlass ist das Neun-Euro-Ticket der Deutschen Bahn, das nun endlich auch den Nicht-ganz-so-Reichen ermöglicht, auf Sylt die Sau rauszulassen.
Nachdem die Bild-Zeitung vor ein paar Tagen berichtete, dass die Sylter Angst vor einem Massen-Bahn-Tourismus hätten, ging der virale Angriff los: Es wird ausgemalt, wie Pöbel, Punks und Pack über die Insel herfallen, „Chaostage“ sind ausgerufen, das Eiland ist schon in Gebiete eingeteilt mit Reggae-Bucht, Garage-Punk- oder „Brüllen ohne Noten“-Area.
Eigentlich ist’s kompletter Unsinn – wir kämen auch so günstig nach Sylt, für 23,90 Euro zum Beispiel in dieser Woche von Frankfurt aus, und mit einer wesentlich kürzeren Fahrtzeit im ICE. Amüsant ist es trotzdem, wie im gemeinsamen Spott gegen den dekadent zur Schau getragenen Reichtum spontan ein Nenner gefunden und zum Klassenkampf der Nichtshabenden aufgerufen wird. Apropos zweite Klasse: Die Deutsche Bahn Cargo hat sich auch eingemischt mit einem Bild, auf dem sie eine „Expresslieferung“ Sangria, Bierhelme und Elotrans – ein Elektrolyte-Mittelchen, das nach Partys gute Dienste leisten soll – herankarrt. (Und im Personentransport wird die Billig-Kundschaft trotz überfüllter Abteile wieder aus der ersten Klasse gekehrt. Aber egal.)
Es geht ja erst mal um die Schadenfreude an der Sabotage der Sylter Sommerfrische, und darum, sich selbst als Teil einer kritisch-hippen Crowd fühlen zu können. Und da stellt sich schon ein bisschen die Frage: Fehlt nicht die Utopie? Der große Ansatz? Auch das Dramatische? Zumindest könnten wir doch überlegen, Sylt mit dem ganzen Pomp gleich untergehen zu lassen. Wie damals, im Jahr 1998, als Christoph Schlingensief sechs Millionen Arbeitslose dazu aufrief, im Wolfgangsee baden zu gehen, um durch die Wasserverdrängung Helmut Kohls Ferienort zu überschwemmen. Am Tag X gab’s dann Polizeiaufgebot und Medienrummel, und es stiegen gerade mal 100 Menschen in den See - Schlingensief vertrat dann halt den Rest der Eingeladenen. Gut, St. Gilgen steht jetzt noch.