Still

Zwei Minuten Stille, zwei Minuten Erinnern zum Holocaust-Gedenktag. Die Kolumne „Times mager“.
Der deutsche Mann, der jetzt in Israel lebt, erzählte von einer persönlichen Premiere: Zum ersten Mal hatte er den Moment erlebt, in dem das Land im Stillstand verharrt. Von Yom HaShoah, dem jährlich begangenen Tag des Gedenkens für die sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden, hatte der Mann natürlich schon gehört, aber der direkte Eindruck, das war seiner Erzählung anzumerken, ging tief.
Der Mann gehörte sicher nicht zu denjenigen, die es für ein Gebot der Solidarität mit dem jüdischen Staat halten, die Politik seiner Regierung zu befürworten. Aber das war jetzt nicht sein Thema, nicht beim Erzählen vom Holocaust-Gedenktag, an dem um zehn Uhr die Sirenen heulten und für zwei Minuten die Menschen innehielten, egal ob sie zu Fuß unterwegs waren oder mit dem Auto oder was auch sonst sie gerade taten. Jetzt zählte dieser eine Moment, in dem aus der Erinnerung an das Unfassbare heraus der Fundus gemeinsamer Identität fassbar wurde, den selbst das irrigste politische Handeln nicht zerstört hat, noch nicht jedenfalls.
Identität, ein Begriff mit Vergiftungsgefahr. Umkämpft auf dem weiten Feld zwischen dem Fantasma einer homogenen nationalen Identität, die sich vor allem aus Abwehr gegen „die anderen“ speist, und einem Diversitätsanspruch, der gewohnte Zuordnungen mit Verweis auf die unterschiedlichsten Identitäten und deren Ansprüche erfolgreich aufzumischen scheint. Welches Recht also, welches Argument konnte der deutsche Mann beanspruchen, wenn er im israelischen Holocaust-Gedenken einen berührenden Moment kollektiver Identität zu erkennen schien?
Vielleicht war es das Gefühl, dass das Gemeinschaftliche wenigstens für diese zwei Minuten ohne Abgrenzung, ohne Abwehr gegenüber irgendeinem „anderen“ auszukommen schien. Eine inklusive und eben nicht exklusive Identität, jedenfalls soweit es sich offenbar für den deutschen Mann erkennen ließ, denn er sah niemanden, nicht in seinem arabisch geprägten Viertel, der sich dem kollektiven Stillstand entzogen hätte. Ein Eindruck nur, ein unvollständiger womöglich, aber als solcher ermutigend, das war dem deutschen Mann anzumerken.
Es konnte nicht ausbleiben, trotz allem, dass die Frage aufkam, wie die Welt aussähe, wenn dieser Moment der inklusiven Identität der Politik als Richtschnur diente, der israelischen, der palästinensischen, der internationalen. Aber sie löste sich irgendwie in Luft auf, die Frage. Zu stark war das Bedürfnis der Anwesenden, die Erzählung von jenen zwei Minuten noch etwas wirken zu lassen, in denen wenigstens aufschien, wie sie auch werden könnte, diese wahnwitzige Welt.