Spiralblock

Das waren noch Zeiten, als der unglückselige Thomas Lawinky dem FAZ-Kritiker den Spiralblock wegnahm.
Der gruselige Vorfall in Hannover, wo ein Ballettchef eine Kritikerin mit Hundedreck beworfen hat, erinnert das interessierte Frankfurter Publikum an die Spiralblockaffäre von 2006. Das waren noch Zeiten. Der Schauspieler Thomas Lawinky nahm in Sebastian Hartmanns schwacher, aber aufgeregter, schon vorher geradezu entgleisender Inszenierung von Ionescos „Jeux de massacre“ (hier: „Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes“) dem FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier spontan das Schreibblöckchen weg, las darin (tat so, als würde er darin lesen; Himmel, muss er aufgeregt gewesen sein) und gab das Blöckchen zurück. Der Kritiker stand auf und verließ den Saal, der Schauspieler schimpfte hinterher. Das Wort „Arschloch“ fiel, lesen wir heute geradezu überrascht im eigenen Text von damals, denn zugleich war Lawinky selbst schon in der Defensive; ein Mensch, der eine Grenze überschritten hatte. Ihm war das vielleicht klarer als uns.
Anschließend las Stadelmaier dem Theater und dem unglücklichen Schauspieler in der FAZ nach aller Kunst die Leviten („Ich hatte mich auf die Premiere gefreut“, ein Satz wie „Brutus ist ein ehrenwerter Mann“) und stellte Strafanzeige. Intendantin Elisabeth Schweeger entschuldigte sich persönlich, und Lawinkys Vertrag wurde gekündigt. Das Stück wurde dann umbenannt in „Being Lawinky“, indem nun jeweils ein anderer Schauspieler von fern oder nah aus Solidarität mit dem geschassten Kollegen in seine Rolle schlüpfte. Dann versandete die Geschichte.
Sie ist gewiss komplizierter als das, was sich davon in der Erinnerung hält. Es sah zum Beispiel, das klingt jetzt sicher sonderbar, nicht ganz so schlimm aus, wie es sich anhört. Es sah in der ersten Sekunde sogar abgekartet aus, nur war klar, dass Gerhard Stadelmaier, in dieser Sache der perfekte Theaterkritiker, niemals mit einem Theater ein Ding gedreht hätte (das tut kein anständiger Kritiker, in der Tat). Es war ein durch und durch unangenehmer Abend, an dem übrigens auch unsereiner sich einmal dagegen verwahren musste, von einem Schauspieler herumgeschoben zu werden. Der Schauspieler wich sofort.
Der Beruf des Theaterkritikers und der Theaterkritikerin ist seither fragiler geworden. Er ist ein paar Tausend Jahre jünger als das Theater, und das Theater wird es mit Sicherheit noch geben, wenn der letzte Kritiker und die letzte Kritikerin längst tot sind. Oder nein, wenn der letzte Kritiker und die letzte Kritikerin längst entlassen sind. Oder Texte über etwas anderes schreiben sollen. Das ist die deprimierende Seite der Gemengelage. Wenn man so will und eine Welt ohne Theaterkritik nicht einfach besser findet.