Roter Teppich

Der rote Teppich bei den Oscars: diesmal champagnerfarben. Andere sagen dazu sandfarben, hellbeige, kosmisch-latte. Die Kolumne „Times mager“.
Einen roten Teppich zu betreten, birgt Risiken. Kriegsheimkehrer Agamemnon will also zu Recht nicht, als Klytämnestra ihm den Weg zum Palast purpurfarben auslegen lässt. Das sei den Göttern vorbehalten, sagt er laut Aischylos in dessen erstem Teil der „Orestie“, er aber wolle sich als Mensch geehrt sehen, nicht als Gott. Eine Vorsichtsmaßnahme – mäkelnden Menschen und eitlen Göttern gegenüber –, und obwohl das Publikum weiß, dass des Königs letztes Stündlein auf jeden Fall geschlagen hat, wird es mit Interesse verfolgen, wie seine Frau ihn auskontert.
Was hätte (der bekriegte und besiegte Konkurrent) Priamos wohl gemacht, fragt sie. Er: Ja, na ja, der hätte wohl den roten Teppich betreten. Sie: Solle ihr Mann, König und Schlachtensieger Agamemnon, etwa mehr Furcht vor Tadel haben als jener? Er: Hm, die Stimme des Volkes habe ja schon Gewicht. Sie: „Wer unbeneidet, ist des Neides nimmer wert!“ Und als sich Agamemnon in den Allgemeinplatz rettet, einer Frau zieme es nicht, Streit zu beginnen, schießt Klytämnestra diesen fabelhaften, dazu noch grammatikalisch lässig anschließenden Satz ab: „Jedoch besiegt zu werden, dem der glücklich ist.“ Und auf Agamemnons letzten Versuch hin, daraus noch einmal ein Argument für sich selbst abzuleiten (dann könne doch auch sie nachgeben), öffnet Klytämnestra munter das Visier zur Schlussoffensive: „Gib nach, gewähre willig mir die Oberhand!“
Das tut er, zieht aber die Schuhe aus, damit der Gang über den roten Teppich ein wenig bescheidener wirkt. Sein letzter Gang.
Zwischen Agamemnon und Klytämnestra, das kommt in einer Ehe so allerdings praktisch nie vor, sitzt jedes Wort, darum geht es schnell, immer bloß in einer Zeile. Natürlich wird Agamemnon übertölpelt. Klytämnestra, die über all die Jahre nicht vergessen hat, dass er ihre Tochter Iphigenie der Staatsräson geopfert hat, konnte sich hingegen lange vorbereiten.
Die Rache gelingt, wird ihr aber selbstverständlich kein Glück bringen (keine Frau zerhackt ungestraft ihren Gatten). Nur der rote Teppich selbst konnte eine lange, sehr lange Laufbahn antreten. Manchmal kommt man nicht in den Saal, ohne möglichst unauffällig über ihn zu huschen. Manchmal, das ist immer eine Erleichterung, kann man am Rand entlangbalancieren.
Bei der Oscar-Gala der vergangenen Nacht jedoch: ein champagnerfarbener Teppich. Im normalen Leben heißt diese Farbe: sandfarben, hellbeige, meinetwegen noch creme oder kosmisch-latte. Wobei kosmisch-latte schon ziemlich schick ist. Bei den Academy Awards ist es zumindest ein Strand bei Sonnenuntergang. Eine große Sache, vielbeachtet. Ein champagnerfarbener Teppich kann leicht schmutzig werden. Er kann leicht langweilig wirken. Wir sagen aber: Sicher ist sicher.