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Times mager
Notre-Dame
- vonChristian Thomasschließen
Wer möchte in den eigenen vier Wänden schon, dass er schief hängt, die Welt ist schon gehörig genug aus dem Gleichgewicht. Sehr sinnbildlich zeigt sich das Dilemma an einem Bauwerk, das mehr ist als nur ein Gebäude.
Morgen kommt Weihnachten, und es kommt, mehr noch als in anderen Jahren, ins Haus. Das Fest wird zum Ereignis in den eigenen vier Wänden. Weil aber Corona sich ebenfalls angekündigt hat, lässt es die eigenen vier Wände enger werden als sonst oft, auch zu Weihnachten.
Um gegen ein immer schon beengtes Raumgefühl etwas zu unternehmen, wurde der Fernseher erfunden. Ein Fenster zur Welt, hier und da von dem Festtag an, als ein Fernseher unter dem Baum lag. Das Angebot ist seitdem zweifellos erheblich in die Breite gegangen. Um es vielfältiger zu gestalten, wurde die Mediathek eingeführt. Sie ist weit mehr als nur Ansichtssache – umso länger man über das Wort nachdenkt. Weihnachten lässt überhaupt länger nachdenken, weil ein wenig Zeit ist, mehr als sonst. Ob nun über das Wort Weihnachten, das geflügelte Wort Friede auf Erden oder den Sachverhalt Haussegen.
Wer möchte in den eigenen vier Wänden schon, dass er schief hängt, die Welt ist schon gehörig genug aus dem Gleichgewicht. Sehr sinnbildlich zeigt sich das Dilemma an einem Bauwerk, das mehr ist als nur ein Gebäude, Notre-Dame, die Kathedrale, die durch den Brand aus der Fassung zu geraten drohte, die Steine, die Wände, die Gewölbe, die Strebebögen, weil das Feuer riesige Löcher geschlagen hatte, gähnende Leerstellen, so dass die Gegenkräfte nicht mehr wirkten, im Kleinen wie im Großen, ein jedes Detail den Zusammenhalt eines Gesamtkunstwerks nicht mehr in der Balance hielt.
Eine für die Kathedrale bedrohliche Schieflage. Wofür das Buch von Agnès Poirier Worte hat (FR-Literaturbeilage v. 17. Dez.), findet eine TV-Dokumentation Bilder. In der ARD-Mediathek eingestellt ein Beitrag des BR: „Die Retter von Notre-Dame“. Eine Rettung wahrhaftig unter Lebensgefahr, ob Kletterer nun an einem Seil hingen in den letzten Monaten, in schwindelerregender Höhe, über einem gähnenden Abgrund. Oder ob Zimmerleute, Maurer, Statiker, Ingenieure, Architekten oder Archäologen sich in Schutzanzüge zwängten, nicht wegen Corona, sondern wegen des Bleis, überall auf der Baustelle verklumpt zu einer hochgiftigen Substanz.
Monate dauerte die Rettung, Stein für Stein. Und auch nur ein falsch aus dem Verbund herausgelöster hätte die Katastrophe bedeuten können, aus der Kathedrale ein kollabierendes Kartenhaus gemacht. Was die Stabilisierung angeht, so ist Notre-Dame immerhin gesichert. Der Film zeigt gelegentlich Zuschauer rund um die abgesperrte Baustelle, Publikum, Augenzeugen. Nicht zuletzt schaut man vor dem Bildschirm offensichtlich staunenden Menschen zu, die daran ein Wohlgefallen haben, dass mit der Rettung von Notre-Dames hochgotischer Statik unendlich viel geborgen wurde. Nichts weniger als das innere Gleichgewicht eines in weiten Teilen dachlosen Weltgebäudes.