Mehrzahl

Die Mehrzahl kommt schon durch, hieß es früher. Aber da wurde in der Zeitung auch noch nicht Ich geschrieben.
Die Mehrzahl der Deutschen war am Wochenende durch den bayerischen Ministerpräsidenten wieder kurz im Gespräch. Im Interview der „Bild am Sonntag“, die einem auch ein wenig aus dem Blick geraten ist, sagte er unter anderem, jene Mehrzahl der Deutschen wolle „einfach in Ruhe und Frieden leben und nicht von Wokeness und Cancel Culture genervt werden. Die Deutschen sorgen sich weniger um Political Correctness und um eine Genderpflicht, sondern um Inflation, Heizkosten und Strompreise“. Wer zu Hause und in der Schule noch gelernt hat, dass die Mehrzahl immer sehr viele sind und man das Wesentliche von ihr schon eh mitbekommen wird, wohingegen das Augenmerk eines anständigen Menschen auf die in Unterzahl gerichtet ist, hörte aber offengestanden trotz der beträchtlichen Lautstärke dieser Sätze nicht genau hin.
Sätze, in denen sich jemand auf die Mehrzahl beruft, erinnern auch unangenehm an eine Tante vielfachen Grades, die „wir“ sagt an Stellen, an denen sie sich in die Mehrzahl bringen muss, um die dummen Ansichten der Nichte vielfachen Grades schon mittels Masse zu widerlegen. „Wir waren entsetzt“, sagt die Tante über progressive Theaterinszenierungen, nein, die Inszenierungen sind nicht progressiv, aber man hat halt im Venedig-Akt von „Hoffmanns Erzählungen“ nicht unbedingt einen direkten Blick auf die Rialtobrücke. „Wir“ ist vor diesem Hintergrund allmählich auch ein relativer Begriff. Hauptsache, man ist nicht die einzige, aber die Nichte vielfachen Grades, die könnte wohl die einzige sein. So.
Ohne abschweifen zu wollen: Es ist interessant, dass es im traditionellen Zeitungsdeutsch genau umgekehrt ist. Das naheliegende Ich gilt noch immer als ein wenig ungehörig und keck. Und obwohl es sich zunehmend ins Geschehen (Geschehen, na ja, also in den Zeitungsartikel) drängelt – und das Ich ist eine sehr dränglerische Natur –, werden viele Kolleginnen und Kollegen weiterhin versuchen, es draußen zu halten. Und, äh, wir auch. Das Wir und das Man sind hier Verlegenheitslösungen. Das Ich, das ist wohl die Idee dahinter, soll nicht so viel Bedeutung bekommen, wie es sie bei wirklich wichtigen Persönlichkeiten zu Recht hat. Nehmen wir zum Beispiel Hilmar Hoffmann. Hilmar Hoffmann?
Eine stark vergrößerte Fotografie von Hilmar Hoffmann (1925–2018) hängt seit kurzem in der Redaktion und zwar so, dass die blitzblauen Augen des einstigen Frankfurter Kulturdezernenten von oben auf das Profil der darunter immer mickriger werdenden Feuilletonredakteurin blicken. Das ist ein Druck, sage ich Ihnen. Allerdings führt das zu weit und ist nicht nur für die Mehrzahl uninteressant. Eigentlich für alle außer eine.