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Von: Judith von Sternburg

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Das Schicksal vieler Manuskripte – Endstation Altpapier?
Das Schicksal vieler Manuskripte – Endstation Altpapier? © Imago

Von einem, der sich rund 1000 Manuskripte erschwindelte – doch sicher nur, um sie privat alle (?) zu lesen. Die Kolumne „Times mager“.

Wir lesen ja auch alle gerne. Trotzdem berichtete das Times mager vor einem Jahr etwas verdattert von jenem Italiener, der beträchtliche kriminelle Energie in die Beschaffung unveröffentlichter Manuskripte gesteckt hatte. Filippo Bernardini fragte sie bei Autoren, Autorinnen, Agenturen an und benutzte dafür falsche, verheißungsvolle E-Mail-Adressen. Wer zaudert lang, wenn Ted von Penguin Random House fragt, ob man nicht etwas Interessantes in der Schublade habe. Und jeder, der auf sich hält, hat etwas Interessantes in der Schublade. Toll, wenn Ted mal draufschaut. Anstatt den Namen der Domain Buchstabe für Buchstabe zu studieren, wie es sich mit Literatur befassten Menschen geziemt hätte, schickten die meisten bloß überglücklich oder kollegial oder einfach nur, weil es ihr Job war, die Manuskripte auf die Reise nach penguinrandornhouse.com. Dann hörten sie nichts mehr davon. Aber wer mit Verlagsleutis zu tun hat, hört ständig nichts mehr davon.

Es fiel also fünf Jahre lang nicht auf, bis es doch auffiel. 1000 Manuskripte, immerhin. Möglicherweise hatte jemand in der Mittagspause doch einmal die E-Mail-Adresse durchgelesen. Leser und Leserinnen überall in dieser Geschichte. Das FBI hängte sich dann voll rein.

Von etwaigen Lösegeldforderungen war zunächst gemunkelt worden, na ja, auch im Verlauf des Prozesses trat nichts dergleichen zutage. Jetzt ist der inzwischen 30-Jährige vor einem New Yorker Gericht des Betruges für schuldig befunden worden. Während er auf das Urteil wartet, mit 15 bis 21 Monaten Haft ist zu rechnen, appellierte er in einem ausführlichen Brief noch einmal ans Gericht. Beiliegend weitere Briefe – Autoren und Autorinnen überall in dieser Geschichte –, unter anderem von dem Romancier und Lyriker Jesse Ball, der versichert, Bernardini habe ihm zwar einen Text abgeluchst, aber Schaden sei daraus doch nicht entstanden. Es handle sich um ein Verbrechen ohne Opfer.

Juristisch klingt das nicht sehr überzeugend, trotzdem ist es rührend, wie sich die Reihen um den jungen Leser schließen, denn auch Bernardini versichert erneut: Er habe nichts gewollt, außer die Bücher zu lesen. Bei einem Verlagsjob habe er mitbekommen, wie Beschäftigte über Manuskripte sprachen, er habe sich gedacht: Warum sollte ich sie nicht auch lesen können?

Ist das Gericht dem nachgegangen? Hat er die 1000 Texte gelesen? Tatsächlich interessiert einen der Fall vielleicht vor allem wegen des darunterliegenden Dramas, und damit ist nicht das gewiss bewegende Drama des Bernardini gemeint, sondern das unüberschaubare Drama der ungelesenen Manuskripte dieser Welt.

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