Krieg 9

Das Spiegelbild im Bild im Schaufenster: Von was erzählt es?
In der Kleinstadt an der Küste gibt es eine Galerie. Welche Kleinstadt an der Küste leistet sich heute noch eine Galerie? Diese Kleinstadt an der deutschen Ostseeküste, an der relativ westlichen Ostseeküste, tut es, oder besser gesagt: die Galeristin in der Kleinstadt. Es gibt noch die zusammengeknüllte Papierkugel im Fenster, die sich dort schon im Dezember fotografieren ließ.
Bei genauerem Hinsehen zeigt das Foto im Schaufenster der Galerie das Spiegelbild eines dezemberhaft kahlen Baums und das Spiegelbild des Fotografen. Es sind Spiegelbilder eines Baums in seiner Vorkriegsverfassung und der eigenen Person in ihrer Vorkriegsverfassung. Es sind keine unbelasteten Spiegelbilder. Der Baum ist kahl. Die eigene Person ist besorgt, und das erkennt man nicht am gesichtsblinden Spiegelbild. Man erkennt es am Datum.
Bei noch genauerem Hinsehen ist es keine Papierkugel, keine zusammengeknüllte, im Fenster. Es ist ein „Tischtuch geballt“, natürlich, so steht es auf dem kleinen Schild. Material: Tischtuch, Garn. Ein weißes Tischtuch, erdkugelrund, mit einem breiten Streifen aus rotem Garn umfasst. Das Tischtuch ist nur zerknüllt, es ist nur geballt, dieses Tischtuch ist noch nicht zerschnitten.
Auch jetzt, beim Wiedersehen nicht. Und doch herrscht Sprachlosigkeit darüber, was bloß los ist. Was ist nur geschehen, warum Krieg? Erstarrtheit im offiziell friedlichen Teil der Welt, wenn nicht gerade schwere Waffen transportiert werden, und eben diese gellende Sprachlosigkeit, sogar im Privaten. Sogar auf der stundenlangen Autofahrt zur Ostseeküste hin, von der Ostseeküste zurück. Wovon soll man sprechen, wenn man nicht nur über Arges sprechen möchte den ganzen Tag. Ein Backfischbrötchen hält ja auch nicht ewig, als Gesprächsthema betrachtet.
Nachts der Traum von Verlust. Alles war in einem Rucksack, oder war es in einer Plastiktüte, jedenfalls ist es jetzt weg, alles. Im fast stockdunklen Bahnhof kurz nach dem Weg gefragt, schon war alles weg, selbst die Altersvorsorge, weg. Zerstörte Umgebung, totale Verzweiflung, alles weg. Nach dem Aufwachen die übliche Erleichterung. Nach der üblichen Erleichterung die Gewissheit: Er trifft die anderen, der totale Verlust. Und du kannst nichts tun.
Beim genauen Hinsehen enthält das Schaufenster der Kleinstadtgalerie auch sieben oder acht Gemälde, Aquarelle in Blau und Gelb, quadratisch, nicht viel größer als Streichholzschachteln. Der Verkaufspreis der Bilder ist ganz und gar Spendengeld. Gezeichnete Mütter mit jeweils zwei Kindern fliehen aus dem verwirbelten Blau-Gelb, das ihre Heimat war. Sie haben ihr Reisegepäck noch dabei, wenigstens das. Es ist so viel verloren, aber nicht alles.