Krieg 55

Fünfhundert Jahre schreckliche Kriegserfahrung hat Bachmut erlebt und steht nun vor der Zerstörung. Die Kolumne „Times mager“.
In der Stadt am Ufer des Flusses Bachmutka hatten vor zwanzig Jahren noch achtzigtausend Menschen gelebt; jetzt waren es, man konnte nur schätzen, vielleicht viertausend. Wie der Fluss und damit auch die Stadt zu ihren Namen gekommen waren, dazu gab es keine verlässlichen Überlieferungen. Vielleicht hatte der tatarische Ausdruck für Brackwasser die Linie vorgegeben.
Am 3. Februar 1814 flog auf Bachmut „mittags bei klarem Himmel unter dem gewöhnlichen Feuerphänomen ein Meteorstein, der im Fallen in mehrere Stücke zersprang, die zusammen zwischen 40 und 50 Pfund wogen“, berichtete Friedrich Wöhler in den „Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen“ mit einigem zeitlichen Abstand 1861. Wöhler gelang es, ein gut fünf Loth schweres Stück des Steins von Bachmut zu analysieren, er bestand aus Eisen, Nickel, Kobalt, Phosphor und diversen Silikaten; woher er gekommen sein konnte, wurde nicht verzeichnet.
Am 12. Februar 2019 flog Julija Andrijiwna Lewtschenko in Eaubonne über zwei Meter, am 10. September 2019 in Minsk über zwei Meter und zwei Zentimeter. Die Hochspringerin, 1997 in Bachmut geboren, war Jugendolympiasiegerin und Vizeweltmeisterin in ihrer Disziplin. Im März 2022, zur Hallen-Weltmeisterschaft in Belgrad, trat sie nicht an. Julija Lewtschenko befand sich zu jener Zeit mit ihrer Mutter und ihrer 16-jährigen Schwester auf der Flucht nach Estland, auf der Flucht vor dem Krieg.
Im März des Jahres 2023 und schon Monate zuvor flogen Geschosse auf die Stadt Bachmut, die nicht nur für Meteorsteine und Leichtathletinnen von Weltformat bekannt war, sondern vor allem ganz normale Menschen beherbergt hatte. Kinder, die zur Schule gingen und Lieder sangen. Männer, die Brot buken und Computerprobleme lösten. Frauen, die Filme drehten und Sekt kelterten. Eine Gesellschaft, die ihren Alltag lebte, bis es dem Tyrannen des gigantischen Nachbarlandes einfiel, die Stadt zu bombardieren, ihre unbescholtene Bevölkerung auszulöschen.
55 Wochen Krieg, nein, acht Jahre und 55 Wochen – nein, fast fünfhundert Jahre schreckliche Kriegserfahrung hatte diese Stadt erlebt, Krimtataren, Donkosaken, Iwan, den Schrecklichen. Später hatte der deutsche Verbrecherstaat dort Tausende Menschen wegen ihrer jüdischen Religion lebendig im Gipsbergwerk tief unter der Erde eingemauert. Später hatte der russische Verbrecherstaat die Stadt umbenannt nach einem seiner Revolutionäre. Später hatte Bachmut sich seinen Namen zurückgeholt. Da nahte schon wieder Krieg, wieder Zerstörung, wieder Leid. Wann war es genug? Wann würde man je verstehen.