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Krieg 48

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Von: Thomas Stillbauer

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Was denken und fühlen all die Menschen in Russland?
Was denken und fühlen wohl die Menschen in Russland über den Ukraine-Krieg? © Alexander Zemlianichenko/dpa

Immer noch ist es an dieser Stelle der größte Wunsch, endlich aufhören zu können mit dem Wochenzählen.

Die Menschen waren verschieden, auch nach acht Jahren und 48 Wochen Krieg. Vielleicht waren sie nach acht Jahren und 48 Wochen Krieg verschiedener als je zuvor. Die Menschen hatten unterschiedliche Vorstellungen davon, was man anderen Menschen zumuten durfte und was nicht. Was man ihnen antun durfte.

Überwog in dem riesengroßen Land weiterhin die Auffassung, dass man Bomben und Raketen auf das kleinere Land schießen durfte, Kindergärten und Krankenhäuser zerstören, Strom- und Wärmezufuhr kappen? Dass man den Tod völlig unbeteiligter Menschen in Kauf nehmen durfte?

Vielleicht überwog sie ja gar nicht, diese Auffassung, in dem riesengroßen Land. Wenn das so war, wenn die Menschen in ihrer Mehrheit dort nicht daran glaubten, dass es gerechtfertigt sei, das kleinere Land seit acht Jahren und besonders seit 48 Wochen zu quälen und zu drangsalieren, dann überwog etwas anderes: Angst. So große Angst, selbst gequält und drangsaliert zu werden von den eigenen Anführern, dass man lieber schwieg. Auch darüber schwieg, dass es ja alle traf, nicht nur die Anderen. Es traf ja auch die Eigenen. Es gab ja im Krieg keine Gewinner.

Von außen hatte man gut reden. Nein, schlecht reden hatte man. Jeder und jede hier hatte Menschen gekannt, Menschen geliebt, die vor viel längerer Zeit ganz Ähnliches erlitten hatten: eine wahnsinnig gewordene Staatsführung. Und einen enthemmten Bevölkerungsteil, der alles übertönte mit seinem totalen Gebrüll. Nicht aufzuhalten waren sie gewesen, nicht auszuhalten. Nie mehr sollte sich das wiederholen. Für immer wollte man sich zurücknehmen mit allem Militärischen. Wer hätte gedacht, dass es viel später, fast achtzig Jahre später, Probleme geben könnte und Debatten gerade wegen dieser Zurückhaltung.

Immer noch war es der größte Wunsch, hier, an dieser Stelle, endlich aufhören zu können mit dem Wochenzählen. Immer noch gab es jedoch Zuspruch für ebendieses eiserne Wochenzählen, solange es nötig war, aber nach 47 Wochen hatte es auch Kritik gegeben: Unsäglich sei es gewesen, die Zerstörung der Dörfer dort und hier miteinander zu vergleichen, schrieb ein Leser. Dort Zerstörung durch Krieg, hier Zerstörung im Namen der Kohlegewinnung.

Nein, nie ging es darum, beides miteinander zu vergleichen. Aber wenn hier ein Dorf geschleift wurde, um Kohlevorkommen zu heben, mit der Begründung, der Krieg dort würde es womöglich (ja, womöglich) erfordern, mehr aus dem Inneren der Erde zu verbrennen, damit die Lichter nicht auch hier ausgingen – dann bestand zwischen beidem doch ein Zusammenhang, und der ließ sich nicht totschweigen.

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