Gurkennase

Warum darf man das Christkind nicht sehen? Wie ein traditionelles Geheimnis unbeabsichtigte Ängste auslösen kann.
Unlängst war an dieser Stelle von einem Christkind die Rede. Kollegin S. schrieb über ein Erlebnis aus der Kindheit, über einen Theaterauftritt als Christkind, der ihr damals eine bleibende Erinnerung beschert hat. Nun soll hier von einem weiteren Kindheitserlebnis berichtet werden, das mit traumatisch nur unzureichend beschrieben ist. Das Kind, von dem hier die Rede sein soll, hatte nämlich panische Angst vor dem Christkind.
Wenn der Weihnachtsabend nahte, traute es sich kaum aus dem Schlafzimmer (ein eigenes Zimmer hatte es damals noch nicht, es war noch klein). Falls das Kind doch einmal in den Flur ging, um zum Beispiel in der Küche etwas zu Essen zu verlangen oder um die Toilette aufzusuchen, achtete es peinlich darauf, nicht zur Wohnzimmertür zu schauen, denn dahinter war – so wusste es – das Christkind am Werk. Es schmückte den Baum und brachte Geschenke.
Was bei anderen Neugier und Vorfreude verursacht, war für das Kind ein Grund zur Sorge. Nicht, dass es sich nicht auf die Bescherung gefreut hätte – im Gegenteil. Nur galt es eben, den Anblick des Christkinds zu vermeiden, denn das war, so dachte das Kind, ein hässliches, buckliges Wesen mit grünem Gesicht und Gurkennase. Vermutlich klingt das jetzt nach Blasphemie, aber das Kind wusste es nicht besser. Die Eltern hatten ihm aber gewiss nichts dergleichen erzählt. Es hatte sich die Schreckgestalt selbst zusammengereimt.
Die Information, die ihm vorlag, war ja nur die: Man darf in das Wohnzimmer nicht hinein, solange das Christkind dort zugange ist; man darf es nicht sehen, auch nicht durch das Schlüsselloch. Warum, dachte sich das Kind, darf ich das Christkind nicht sehen? Es muss ja einen Grund dafür geben. Vermutlich geschieht etwas Schlimmes, wenn ich es versehentlich doch sehe. Vielleicht will das Christkind wegen seines Aussehens nicht gesehen werden. Es ist ja auch naheliegend - so das Kind in seinen Gedanken - dass ein Wesen, dessen Namen mit einem so sperrig-unangenehmen Krrr-Laut beginnt, eine Schrecken einflößende Gestalt hat.
Was das Wort Christ bedeutet, war dem Kind damals nämlich nicht klar (geschweige denn, wie es geschrieben wird). Dass so ein seltsames Wesen einem Puppen oder einen Kaufladen schenken konnte, gehörte natürlich zu den faszinierendsten Rätseln überhaupt.
Hätte es dem Kind geholfen, wenn es von der ans Kreuz genagelten Christusfigur aus der Kirche gewusst hätte? Vermutlich wäre die Verunsicherung nur umso größer gewesen.