Größe

Indien überholt China bei der Bevölkerungszahl - und vielleicht auch als Wirtschaftsmacht. Die Kolumne „Times mager“.
Es ist eine Binsenweisheit: Größe ist ein sehr relativer Begriff. Napoleon hielt sich für den Größten, dabei hatte er nur ein restauratives Zeitalter eingeleitet. Es gab andere, die glaubten, so groß wie Napoleon zu sein - und die Welt ins Unglück stürzten.
Aristoteles hielt Größe für eine eigene Kategorie auf der Suche nach der Einheit des Seins. Das widerspricht nicht der Tatsache, dass man relativ groß und dann auch deutlich an Größe verlieren kann. Letzteres steht China bevor, sagen viele. Denn die Ein-Kind-Politik hat für viel größere Probleme gesorgt als vermutet. Zwar hatte die chinesische Regierung schon vor Jahren gegengesteuert - und doch ist in diesem Jahr etwas Historisches passiert: China ist nicht mehr das bevölkerungsreichste Land der Welt. Die neue Nummer eins ist Indien. Beide Länder weisen 1,4 Milliarden Menschen in ihren offiziellen Statistiken aus. Indien hat nun einige Menschen mehr als China.
Und deshalb wird vermutet, dass schon bald der Wachstumsmotor in Asien nicht mehr das Reich der Mitte sein wird. Der Wettbewerb wird damit noch intensiver angeheizt werden, dabei ist die Stimmung ja schon mehr als gereizt. Die Firma Apple hat bereits Produktionszweige nach Indien verlegen lassen, sicherlich auch wegen der aggressiven Politik der Vereinigten Staaten gegenüber Peking.
Doch die Frage bleibt, ob die Regierung in Neu-Delhi tatsächlich die richtigen Instrumente in der Hand hält, um das Land zum großen Aufsteiger des 21. Jahrhunderts werden zu lassen. Zweifel sind angebracht. Denn das Land ist äußerst korrupt. Und die Regierung unternimmt nur halbherzige Versuche, dies zu ändern. Zudem zeigen die Eliten wenig Lust, ihren extremen Reichtum mit dem Rest des Landes zu teilen. In Indien gibt es eine so massive soziale Ungleichheit, dass Ökonomen wie Thomas Piketty dies als eine starke Bremse für das Land auf der Überholspur ansehen.
Dennoch: Viele seiner Wirtschaftszweige sind schon heute auf höchstem internationalen Niveau. Und was die Geistesgeschichte angeht, kann Indien problemlos mit anderen Nationen mithalten. Darauf verweist gerne Nobelpreisträger Amarya Sen. Viele Kenner der griechischen Philosophie glauben sogar, dass es einen Aristoteles oder Platon ohne den Einfluss indischer Denker kaum hätte geben können.
Und Europa? Es befindet sich von der Bevölkerungsentwicklung her genauso im Sinkflug wie die USA. Ein Bevölkerungswachstum ist angesichts des Klimawandels aus europäischer Sicht auch keine Auszeichnung mehr. Hier gilt nunmehr das Prinzip: Weniger wäre mehr gewesen. Wer sich daran hält, besitzt wahre Größe - glauben zumindest die Europäer.