Goethe

Der 22. März ist ein ernster Tag. Für Goethe war es sogar der letzte. Die Kolumne „Times mager“.
Der 22. März ist bestens geeignet, den Tod besonders wütend anzustarren, diese Zumutung, die noch dazu die Frechheit besitzt, als einziges auf der Welt alternativlos zu sein. Goethe, der vor 191 Jahren starb, hasste den Tod und ging ihm aus dem Weg, nicht als ungezogener Egoist, sondern als ausreichend fantasiebegabter Mensch. Der 22. März, ohnehin schon ein verdorbener Tag, ist aber auch geeignet, über Unerfreuliches zu sprechen, wenn man schon damit angefangen hat.
Heute: Das Todesurteil gegen die Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn von 1783, gegen das sich der Weimarer Politiker Goethe nicht so stemmte, wie man es von dem Künstler erwartet hätte, der die Geschichte vom Gretchen aufgeschrieben hatte. Lange wusste man auch nichts Rechtes darüber und nahm an, dass Goethe in Justizdingen fortschrittlich gewesen sei. Dann sprach sich Anfang der 1930er Jahre herum, dass er in der Sache Höhn, einem schon seinerzeit strittigen Fall, unter das Urteil „auch ich“ geschrieben habe.
Das stimmte in dieser als besonders schockierend erlebten Verkürzung nicht, aber es war genau der Zeitpunkt, zu dem Thomas Mann seine Rede zum 100. Todestag vorbereitete, 1932. Goethe „war ein Kämpfer und Befreier im Sittlichen, im Geistigen, besonders im Erotischen, nicht im Staatlichen und Bürgerlichen“, schloss Thomas Mann also: „Mit Gretchens Jammerschicksal, mit Faustens Liebesschuld ist kein Paragraph, kein gesellschaftlicher Zustand, kein ,Institut‘ angeklagt und angegriffen, sondern ein Dichter unterredet sich in dieser ,Tragödie‘ mit dem Ewigen über das Menschenlos. So war es möglich, dass dieser selbe Dichter als Mitglied des Weimarischen Staatsrates unter ein Todesurteil über eine junge Kindsmörderin, die der Herzog selbst lieber begnadigt hätte, zu den Namen der anderen gestrengen Herren Minister das Wort schrieb ,Auch ich‘ – was, wie nicht ich zuerst empfinde, in seiner Art ebenso erschütternd ist wie der ganze ,Faust‘.“
Das kommt einem sehr deutsch vor, Thomas Mann kam es auch sehr deutsch vor, und er zitierte Richard Wagner: „Der Deutsche ist konservativ.“ Und bis heute wird schon die Frage in Frage gestellt, wie der Dichter zu den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten steht. Andererseits zeigte sich später, dass der konkrete Fall insgesamt komplexer war, Goethes Begründung ausschweifender, sein Einfluss geringfügiger. Und doch.
Der 22. März, ein ernster Tag. Legen wir heute einmal den Brecht/Weill-Song von Jim Mahoney auf, der in seiner letzten Nacht vor der Hinrichtung alles will, nur nicht hingerichtet werden. Die Dichtung versteht die Menschen besser als der Dichter.
Am 28. August aber wollen wir wie immer eine gelbe Weste anziehen, Goethe loben und vergnügt sein.