Friedhöfe

Unterwegs an friedlichen und unfriedlichen Orten für die Toten. Die Kolumne „Times mager“.
Auf dem Friedhof sind viele Gräber offenbar nicht mehr verlängert worden. Starkfarbige Aufkleber haben über einen langen Zeitraum darauf aufmerksam gemacht, jahrelang, so kommt es einem vor. Aber hier geht das Zeitgefühl leicht verloren, obwohl genaue Daten neben den Namen das A und O an diesem Ort sind. Wo die Daten ungenau werden, stimmt etwas nicht, also: stimmt etwas noch mehr nicht als ohnehin schon. Die Zusatzsteine, auf denen zum Beispiel steht „verm. 1944“, kamen dem Kind nicht so schlimm vor, als die Eltern ihm erklärten, was das heißt. Ist doch vielleicht besser als tot, dachte das etwas dumme Kind.
Auf dem Friedhof herrscht in Friedenszeiten keine Eile, aber doch ein Nutzungsrecht. Nutzungsrecht, kein attraktives, aber ein tröstliches Wort. Es ist gut, dass es etwas gibt, dass man nutzen kann. Und dass es ein Recht gibt. Ein Recht ist immer gut, wenn auch nicht billig, trotzdem. Ist das Nutzungsrecht abgelaufen, wird man zudem nicht direkt hinausgeworfen. Irgendwann, wie sich jetzt zeigt, ist aber Schluss und Ende. Zum zweiten Mal.
Wer noch lebt, ärgert sich jetzt, nicht einmal den Namen zu wissen, der bis vor wenigen Wochen noch auf dem Stein nebenan stand, der Stein in Schieflage, die Hecke ein Gestrüpp. Jetzt ist alles weg und zartes Gras darüber gewachsen. Das Grünflächenamt gibt sich große Mühe. Die leeren Gräber stehen bereit wie frisch bezogene Krankenhausbetten, aber hier ist es schöner.
In Ralf Rothmanns nagelneuem Roman „Die Nacht unterm Schnee“, mehr dazu in Kürze, erzählt ein Mann von der Versenkung der Schiffe „Cap Arcona“, „Thielbeck“ und vieler anderer in der Lübecker Bucht in den letzten Kriegstagen 1945. An Bord Tausende Menschen aus Konzentrationslagern. Die Umstände furchtbar. „Viele starben denn auch an Fleckfieber oder Typhus“, erzählt der Mann, „und weil man die Leichen wegen der Küstennähe nicht ins Meer werfen wollte – es war Anfang Mai, trotz des Krieges wurden die ersten Strandkörbe aufgestellt –, mussten die noch Lebenden zwischen den Verwesenden liegen.“ Dann nahmen britische Flieger die Schiffe unter Beschuss. Die Menschen verbrannten, ertranken oder wurden am Ufer von den Wachmannschaften erschossen, „der Applaus der Neustädter Bürger hallte über das Meer“, sagt der Mann. „Über siebentausend Tote lagen damals auf dem Grund der Lübecker Buch, viele liegen wohl noch dort.“ Im Buch ist das eine Weile her, vielleicht 20 Jahre später lernte unsereiner dann in der Lübecker Buch das Schwimmen.