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Nur ein Film

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Benedict Cumberbatch macht seine Sache, das Schau spielen, so gut, dass in "Brexit - the Uncivil War", er die einzige interessante Figur zwischen Tröpfen ist.
Benedict Cumberbatch macht seine Sache, das Schau spielen, so gut, dass in "Brexit - the Uncivil War", er die einzige interessante Figur zwischen Tröpfen ist. © HBO

Bis zur Verfilmung einer Katastrophe muss etwas Zeit vergehen, normalerweise.

Sobald die Wirklichkeit die Fiktion wieder eingeholt hat, denkt man, jetzt, jetzt aber nun wirklich, sei die Fiktion in ihre Schranken gewiesen. Nie war das bisher so deutlich wie am Abend des 11. September 2001, während wir weinend auf dem Sofa saßen und erste Artikel entstanden, in denen das Ende des Katastrophenfilms verkündet wurde. Es entwickelte sich dann anders, was das betraf, die menschliche Fantasie zeigte sich erneut von ihrer robusten Seite. Freilich dauerte es eine Weile, na ja, ein Jahr bis zum ersten Episodenfilm, fünf Jahre bis zu Oliver Stone.

Wirklichkeit und Fiktion: Als Laurence Olivier 1944 die Verfilmung des Shakespeare-Stückes „Henry V“ inszenierte – er selbst auch in der Titelrolle –, kamen die Briten nicht umhin, in der Crispins-Tag-Rede des Monarchen vor der aussichtslosen, dann aber gewonnenen Schlacht von Azincourt 1415 („we few, we happy few ...“) eine Aufforderung an sich selbst zu sehen. Sie sollten auch gar nicht umhinkommen. Churchill nahm bekanntlich dezenten Einfluss auf das Drehbuch, aus dem königskritische Elemente gestrichen wurden, so dass man tatsächlich sagen kann: Der Ruf zum bedingungslosen, aufopferungsbereiten englischen Zusammenhalt war 1944 noch straffer und unzweideutiger, als er es zu Zeiten Elisabeths I. im Jahre 1599 gewesen war, und die Freiheit der Kunst war interessanterweise nicht größer geworden.

Abgesehen von der leisen Ironie, dass die Schlacht von Azincourt auf dem Kontinent stattfand und in einer Zeit, in der das britische Terrain nicht so glasklar umrandet war, wie es vielen Inselbewohnern heute lieb wäre (und auch heute stimmt es ja nicht) – abgesehen davon also wirkt die Crispins-Tag-Rede auf die Inselgemüter über die Zeiten hinweg immer wieder ein. Sie passt sogar zur Variante eines ungeordneten Brexits, allerdings ist Henry bereit, denen, die nicht zu den „happy few“ zählen, kämpfen und sterben wollen, einen Pass auszustellen und sie ziehen zu lassen.

Besser passt dazu aber ein Fernsehfilm, der soeben im  Channel 4 ausgestrahlt wurde. „Brexit – The Uncivil War“ schildert die Brexit-Kampagne vor dem Referendum von 2016, und zwar aus Sicht des „Vote Leave“-Kampagnenleiters Dominic Cummings. Benedict Cumberbatch spielt ihn offenbar so gut (so intelligent, so durchgeknallt), dass er wie die einzige interessante Figur zwischen Tröpfen wirkt. Die Nation ist insofern sogleich erneut geteilt. Es geht heftig zu. Aber man spürt den Wunsch, herumzudiskutieren. Stimmt dies, stimmt jenes, war es wirklich so (nur manchmal: waren wir wirklich so blöd)? Als wäre sonst alles normal und der Film nur ein Film, schlimmstenfalls über alte Zeiten.

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