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Brot

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Von: Stephan Hebel

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Essen Sie auch alle Brotkrümel?
Essen Sie auch alle Brotkrümel? © Imago

Aus gegebenem Anlass: Nicht jede Metapher ist ein Knaller.

Kollege S. hatte wieder Zeitung gelesen, was in ihm regelmäßig ein starkes Mitteilungsbedürfnis weckte, das er im übrigen auf Nachfragen überzeugend mit der Bemerkung zu begründen pflegte, es lese ja sonst niemand mehr Zeitung, da helfe nur Mundpropaganda.

Früher hatte S. an dieser Stelle noch jedes Mal hinzugefügt, es heiße sehr wohl Mundpropaganda und nicht Mund-zu-Mund-Propaganda, Propaganda sei schließlich keine Beatmung. Aber diese Belehrung unterließ er, seit jemand das Internet befragt und ihn seinerseits belehrt hatte: Eine Botschaft könne sehr wohl von Mund zu Mund gehen, bis sie „in aller Munde“ sei, weshalb es schon im Wörterbuch der Brüder Grimm geheißen habe: „Gerüchte, Nachrichten gehen von Mund zu Mund“ beziehungsweise im Mittelhochdeutschen „von Munde ze Munde“.

So oder so, Kollege S. hatte in der Zeitung von einem Politiker gelesen, der die gegnerische Partei bezichtigte, „den Knall nicht gehört zu haben“. Er, S., habe beim Lesen sofort den Eindruck gehabt, dass der Politiker eigentlich „den Schuss nicht gehört“ habe sagen wollen, aber aus allzu nahe liegenden Kriegsgründen gerade noch in Richtung „Knall“ abgebogen sei, was es allerdings bei genauerer Betrachtung auch nicht besser mache.

Allgemeine Zustimmung, und aus allen Ecken kamen nun Beispiele für Wortkombinationen mit Begriffen wie „Bombe“ oder „Granate“, die wir, so sagte es einer, zwei Generationen lang als positive Superlative im Munde geführt hätten, bis wir uns nun endlich wieder schmerzhaft erinnern müssten, worum es sich in der Wirklichkeit handele.

Das wiederum weckte beim Kollegen S., der nicht mehr der Jüngste ist, eine Erinnerung an seine Mutter. Die habe es selbst in Zeiten großen Wohlstands nicht über sich gebracht, von Tellern gerutschte Brotkrümel aufzuwischen und wegzuwerfen. Sie habe die Reste vielmehr mit einem befeuchteten Finger aufgenommen und in den Mund gesteckt.

Der Tisch, fügte S. hinzu, sei immer sehr sauber gewesen, aber er und seine Geschwister hätten dieses Ritual seinerzeit als höchst skurril empfunden, als Marotte aus der kargen „Nachkriegszeit“ eben. Sein damaliges Unverständnis, so S., sei natürlich leicht zu erklären, er gehöre schließlich der Generation „In Gefahr und größter Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot“ an. Allerdings bleibe einem auch dieser Spruch inzwischen – „Achtung, passende Metapher!“ – im Halse stecken.

„Brot, Frieden und Freiheit wachsen auf den gleichen Halmen“, warf jemand, ein wenig bekanntes Sprichwort zitierend, dazwischen. Und genau das, antwortete der Kollege S., sei heutzutage mal wieder das Problem.

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