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Beziehungen

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Von: Judith von Sternburg

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Verwandtschaftsgrade sind zu klären. Darum geht‘s doch in erster Linie bei Familienfeste, oder?
Verwandtschaftsgrade sind zu klären. Darum geht‘s doch in erster Linie bei Familienfeste, oder? © Imago Images

Worum geht es eigentlich bei Familienfesten?

Leistung“ und „sich Respekt verdienen“, sagt M., seien Wendungen, die er eigentlich nie im Büro höre, dafür aber beim Familienfest. Denn darauf kam das Thema: Familienfeste. Bei ihnen, erzählt M., sei das Familienfest das leistungsbezogene Ereignis des Jahres schlechthin. Der Großonkel, der traditionell eine Rede halte, lasse seine Augen über die Neffen und Nichten gleiten und stelle zufrieden fest, dass F. sich in seiner Firma inzwischen großen Respekt verdient und N.s Leistung sich erneut in einer Beförderung niedergeschlagen habe. Alle Anwesenden versichern M., dass sie ihn total respektierten und mit seinen Leistungen im Büro unbesehen zufrieden, nein, davon begeistert seien. M. erzählt noch, wie ein Onkel, der seinen Sohn längere Zeit nicht gesehen habe, mit den Worten zu ihm rübergegangen sei, jetzt wolle er ihn einmal abfragen. Lateinvokabeln oder was, versucht S. zu scherzen, denn die Schule ist für alle hier verdammt lang her. Aber M. ist nicht aufgelegt, er guckt S. sogar böse an.

S. betont vor Schreck, dass es beim Familienfest doch in erster Linie darum gehe zu versuchen, die Verwandtschaftsgrade zu klären. In ihrem Fall befinde man sich rasch in der Generation der Ururgroßmütter und Ururgroßväter, nach der offenbar eine rätselhafte Ausdünnung des Stammbaums stattgefunden habe. Aus einer nun zahlenmäßig durchaus überschaubaren Gruppe fielen ihr Menschen um den Hals, deren Ururgroßmutter eine Schwester ihres Ururgroßvaters gewesen sei. Oder eine Cousine. Oder so.

Natürlich sei das nur bildlich gesprochen, fügt S. außerdem rasch hinzu, niemand sei sich beim Familienfest um den Hals gefallen, bloß die Fäuste seien sanft aneinandergestubst. Dies freilich in einer Stadt im Sächsischen, wo das Händeschütteln offensichtlich wieder oder weiterhin gängig sei. Eine Frau habe ihr erklärt, das könne damit zusammenhängen, dass der Händedruck Sachsen (und Sächsinnen, d. Red.) besonders wichtig sei. Ihre Sekretärin, erzählte die sympathische ortsansässige Frau, bei der der Verwandtschaftsgrad wirklich überhaupt nicht mehr zu ermitteln war, gehe davon aus, dass sie ihr täglich beim Kommen und Gehen die Hand gebe. Derzeit selbstverständlich nicht, so die Frau.

Das, sagt S., sei eine Merkwürdigkeit gewesen. Fast alle hätten darüber gesprochen, dass man sich nicht mehr die Hand gebe, aber fast überall (aber nicht bei ihnen) seien die Hände geschüttelt worden. Die üblichen familiären Rekonstruktionsversuche seien so von einer zusätzlichen Ewiggestrigkeit umhüllt gewesen.

Das Wort „Ewiggestrigkeit“ gebe es nicht, so der immer noch beleidigte M., der nicht nur S., sondern allen Anwesenden jetzt doch wie ein Streber vorkommt.

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