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Abgrund

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Von: Lisa Berins

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Unendlich elastisch ist kein Material dieser Welt. © Imago

Apropos Bühnenunfall: Wie sehr sich ein wabbeliges Latexkostüm wohl dehnen kann? Die Auflösung muss wehgetan haben. Die Kolumne „Times mager“.

Die Bühne ist ein gefährlicher Ort. Immerzu kulminiert dort alles, das ganze Repertoire des menschlichen Abgrunds: Eifersucht, Rache, Heimtücke, Hass, Gewalt, Mord. Natürlich ist es nur gespieltes Drama, aber manchmal eben auch nicht: Auch im Spiel lauert die echte Gefahr; meist in der Requisite, was im schlimmsten Fall überhaupt nicht lustig ist – siehe Alec Baldwin oder andere Set- und Bühnen-Unfälle, die für die Beteiligten tödlich oder mit Verletzungen endeten.

Am Akademietheater in Wien, der kleinen Spielstätte des Burgtheaters, steht seit Januar das zum Berliner Theatertreffen eingeladene Stück „Die Eingeborenen von Maria Blut“ auf dem Spielplan – nach einem Buch von Maria Lazar (1895-1948), die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ins Exil gehen musste, und deren Werk jetzt wiederentdeckt wird.

Die 1930er Jahre sind angebrochen, es ist der Vorabend des Nationalsozialismus. In dem kleinen Wallfahrtsort Maria Blut, eine Art „österreichisches Lourdes“, herrscht Unruhe. Die Konservenfabrik schließt, und der Unternehmer Schellbach überredet die Leute, in sein neues Produkt zu investieren: die Raumkraft. Wow; Raumkraft. Was das genau ist? – Wohl nicht mehr als eine Verheißung. Als sich Schellbach erschießt, ist die Aufregung groß, das Dorf vor dem Kollaps. Es ist der Moment, in dem sich neue, brandgefährliche Ideen durch eine tratschende Bevölkerung (mit expressionistisch-absurden Wasserköpfen ausgestattet) wie eine Krankheit ausbreiten – was in Gewalt und Tod endet. Der Nationalsozialismus zieht durch die Straßen – unter den Augen der Muttergottes, die übergroß und omnipräsent auf der Bühne thront.

Vor ihr nimmt Doktor Lehmann, laut Gerüchten ein „Roter“, von seiner Geliebten Abschied, die engelsgleich an die Bühnendecke hochfährt. Ganz will er sie nicht gehen lassen, klammert sich an einen Teil ihres Kostüms, ein halbdurchsichtiger, latexartiger Wabbel-Fummel. Ungläubig staunt man, wie sehr sich dieser Fummel dehnen lässt. Meter um Meter, ohne zu zerreißen, vom Bühnenboden bis zur Decke. Die Geliebte werkelt (etwas hektisch?) am anderen Ende, sie will ihm wohl dieses Andenken lassen, aber es scheint sich nicht zu lösen, und der Doktor hat nun keine Wahl mehr: Er muss das Ding los- und schmerzhaft zurückschnalzen lassen. Dabei zuckt er stellvertretend für die Abgewatschte zusammen, sagt sowas wie „Autsch“, findet aber wieder in seine Rolle, falls er überhaupt herausgefallen war. Das Publikum lacht erlöst: Wahrscheinlich niemand verletzt. Aber, na ja. Der Doktor wird am Ende abtransportiert, im Zug, ohne Zwischenhalt. Endstation: Abgrund. Man hofft – obwohl man’s besser weiß –, dass da möglichst wenig Realität mitspielte.

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