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10:48

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Von: Sandra Danicke

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Anstehen für die Booster-Impfung – selbst mit Termin keine Seltenheit.
Anstehen für die Booster-Impfung – selbst mit Termin keine Seltenheit. © Christian Schroedter/imago

Manchmal ist es ein Vorteil, älter auszusehen als man ist. Man muss dann nicht so lange warten, bis es losgeht.

Ein Termin um 10:48 Uhr ist ungewöhnlich. Zumindest suggeriert er, dass hier jemand keine Zeit verlieren möchte und alles zügig vonstatten geht. Fast schämt man sich, als man 15 Minuten zu früh eintrifft, aber da vor dem Eingang bereits Menschen in einer Schlange warten, stellt man sich dazu. Da kommt ein lustig grinsender Herr - ja, genau: Er trägt keine Maske, aber das wirkt wie ein Versehen, man sieht es ihm nach. Ob er hier richtig sei? Wenn er einen Termin habe, schon. Das nicht, sagt der Herr, der gar nicht wie ein Herr aussieht, sondern ziemlich lässig mit klobigen Turnschuhen und Lederjacke, er sei aber über 60 und müsse demnächst dringend nach Südamerika. Oha. Das Alter sieht man ihm gar nicht an, Südamerika schon. Er darf bleiben. Nach einer moderaten Wartezeit gelangen wir durch die Tür, wo allerdings eine weitere Schlange an einem Schalter wartet. Auch das geht vorbei, jetzt warten wir am unteren Ende einer Rolltreppe. Eieiei, das dauert, aber nun sind wir ja endlich dran – mit Rolltreppe fahren.

Oben wartet eine erheblich längere Schlange, die sich in einem sehr großen Quadrat windet. Ein Wachmann geht vorbei und winkt – scheinbar wahllos – Menschen heraus. Die Dame, die – wie vorgeschrieben – 1,5 Meter vor einem steht, wird ärgerlich, denn sie hat das Prinzip verstanden: „Ich bin auch alt“, behauptet sie, „man sieht es mir nur nicht an.“ Auf die freundlich gemeinte Bemerkung, da solle sie doch froh sein, reagiert sie frustiert: „Andernfalls müsste ich aber nicht so lange warten.“ Och. Will man nicht lieber für jung gehalten werden und dafür ein paar Minuten länger herumstehen?

Der Südamerikaner hat die Lage nicht gleich begriffen. Erst eine halbe Stunde später – wir nähern uns dem Ende der Schlange – geht er zu einem der Aufpasser. „Ich bin 75!“, ruft er und darf – nachdem man einen verblüfften Blick in seinen Ausweis geworfen hat – drei Plätze vorrücken.

Jetzt ist es wirklich nicht mehr weit, denkt man – bis zur nächsten Ecke. Hinter der – haha – eine noch längere Menschenschlange vom linken auf den rechten Fuß tritt, und sich folgender Gedanke mit Macht ins Bewusstsein drängt: Wäre es nicht doch besser, für alt gehalten zu werden und dafür zwei Stunden Lebenszeit mehr zur freien Verfügung zu haben? Man bekäme auch leichter einen Sitzplatz angeboten.

Statt 10:48 ist es inzwischen 12:32 Uhr, der Südamerikaner macht Dehnübungen, die aussehen, als wolle er die Sonne mit seinen Händen umrunden, die jung aussehende alte Dame lehnt sich erschöpft an eine Pressspanwand. Bis zur Boosterimpfung dauert es noch zwei weitere Ecken, anders als bei Kafka kommt man aber irgendwann ans Ziel.

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