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Wim Vandekeybus’ „Traces“ bei Tanzmainz – Es mit der Straße treiben

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Von: Sylvia Staude

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Den Seelenfrieden tanzen diese Menschen nicht: Szene aus „Traces“. Foto: Danny Willems
Den Seelenfrieden tanzen diese Menschen nicht: Szene aus „Traces“. Foto: Danny Willems © Danny Willems

Der alte Wilde: Der Belgier Wim Vandekeybus mit mächtigen „Traces“ beim Tanzmainz-Festival.

Im kleinen Land Belgien entstand in den 80er Jahren eine fulminante Tanzszene, deren Einfluss bald weit reichte, deren prägende Figuren Anne Teresa De Keersmaeker, Alain Platel und Wim Vandekeybus dank TAT und Mousonturm bald auch in Frankfurt keine Unbekannten mehr waren. Dazu zählen muss man Jan Fabre, auch wenn er im vergangenen Jahr im Zuge von MeToo und der Klage von fünf Tänzerinnen wegen Machtmissbrauchs zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt wurde: Der Fall eines problematischen, herrischen Künstlers, der große Kunst geschaffen hat. 1985/86 stand mit Anfang 20 Wim Vandekeybus für Fabre auf der Bühne, arbeitete danach mit einem eigenen Ensemble in Madrid an seinem ersten Stück. „What the Body Does Not Remember“ wurde 1987 uraufgeführt, erhielt einen Bessie Award, sprang mit einer Tanzsprache auf die Bühnen der Welt, die in ihrer Wildheit und Risikobereitschaft ungekannt war.

Mehr als 40 Bühnenwerke hat Vandekeybus inzwischen mit seiner Gruppe Ultima Vez erarbeitet, Filme kamen dazu. 2019 hatte „Traces“, Spuren, Uraufführung. Beim Tanzmainz-Festival gab es jetzt Gelegenheit, dieses in doppeltem Sinn abendfüllende Werk zu sehen – das Große Haus des Staatstheaters war rappelvoll. In doppeltem Sinn, denn nicht nur ist „Traces“ eindreiviertel pausenlose Stunden lang, es ist auch ein szenisch und bewegungssprachlich mächtiges, sein Publikum in Anspruch nehmendes Stück.

„Traces“ ist entstanden, nachdem Vandekeybus nach Rumänien zu den letzten Urwäldern Europas reiste. Dunkel steht nun ein Wald, ein Prospekt, im Bühnenhintergrund (Patrick Vantricht). Davor wird gerade ein Straßenbau beendet, ein Arbeiter malt noch die weißen Begrenzungen und Mittelstriche. Am rechten Rand steht ein Müllcontainer, links liegt ein Haufen alter Autoreifen. Eine junge Frau, die panisch und schreiend herumläuft, wird überfahren. Der Arbeiter packt sie in einen weißen Sack. Aus dem sie bald ein Bär zupfen und behutsam rollen wird.

Ja, es gibt noch Bären in diesem geschändeten Wald. Außerdem wie besessen auftanzende Menschlein, manchmal erscheinen sie ausgelassen, dann wieder von Hysterie angetrieben. Der Straßenarbeiter vom Anfang gibt immer wieder den fingerschnippenden, die anderen herumkommandierenden Boss, nur eine Frau aus dem Wald stellt sich ihm entgegen, ihr trauen die Bären und horchen auf sie. Am Ende töten sie die Eindringlinge, die ihr Habitat zerstören.

Doch „Traces“ hat keine fortlaufende Handlung, ist zusammengesetzt aus eindringlichen Bildern und durch ihre virtuose Wucht aufgeladenen Tanzszenen. In einer plagen sich zwei nackte Männer ab, dem einen steckt ein Eimer am Fuß, der Kopf des anderen steckt in einem Eimer, es dauert, bis die Gruppe sie aufhält, befreit, ihnen Kleidung gibt, ihnen ein wenig Schutz gibt.

Immer noch beeindruckt die Vandekeybus’sche Tanzsprache, ihre Derbheit, Wildheit, dabei nuancierte Ausdruckskraft. Menschen springen sich an, werden gewirbelt, geworfen, als seien sie eine Puppe – meist (aber nicht nur) die leichteren Frauen, so dass die Choreografien des Belgiers auch immer vom Geschlechterverhältnis erzählen. Doch die Waldfrau trägt lässig einen Ziegelstein, den der Arbeiter nicht aufzuheben vermag, so sehr er sich pantomimisch plagt. Dafür treibt er es wie ein Karnickel mit seiner Straße. Man graust sich, man lacht. Man weiß, diese Szene erzählt von der umweltzerstörerischen Dummheit des Menschen.

Die Luft vibriert, wenn das Ensemble tanzt. Vandekeybus setzt nicht auf Zartheit, auf Schönheit und Leichtfüßigkeit. Seine Körpersprache war schon immer eine des jetzt so gern beschworenen Wumms. Aber das macht seine Stücke auch dunkel: Diese Menschen rackern sich ab, sind Getriebene, diese Menschen gehen nur selten nett oder gar liebevoll miteinander um.

Mit „Traces“ hat sich das Mainzer Festival (www.tanzmainz.com) noch einmal gesteigert, mal sehen, welche starken Stücke Direktor Honne Dohrmann bis nächsten Sonntag noch aus dem Ärmel ziehen wird. Schnell, schnell zu den Karten.

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