„Werther“ in Wiesbaden: Picknick im Grünen

Jules Massenets „Werther“ als glaubwürdiges Quartett-Spiel am Staatstheater Wiesbaden
Der neue „Werther“ am Staatstheater Wiesbaden ist ein Kammerspiel in Quartett-Formation, und es ist fast erschreckend, wie wenig man vermisst und wie viel man dafür bekommt. Zumal zwar sämtliche Nebenfiguren aus Jules Massenets Oper gestrichen sind, aber der schwer verzichtbare Weihnachten-Weihnachten-singende Kinderchor vom Band eingespielt wird (die Jugendkantorei der Evangelischen Singakademie, mit einem mystifizierenden Hauch von Halleffekt).
Im Zentrum zunächst die einfache (allerdings gewichtige) und wirkungsvolle Bühnenbildidee von Dirk Becker. Im schwarzen Kasten des Großen Hauses ohne Kaschierung der Technik ein Podest auf Rollen, darauf ein sommerlich belaubter Baum auf grüner Wiese. Das Podest lässt sich mit einigem Geknarze und Geächze (o geliebte, o einmalige, o trotz allem funktionstüchtige Theatermaschinerie) von hinten nach oben ziehen, so dass am Ende eines recht spannenden Vorgangs der fast lebensgroße Baum kroneüber von der Decke, äh, baumelt. Der Schnee, der sich nachher darin verfangen hat, sind die Blätter mit Werthers Briefen, die beim neuerlichen Wenden des Baumes sanft rieseln. Den Boden bedecken sie ohnehin schon.
An einem Abend, an dem manches fein ineinandergreift, ist es das merkwürdig allgegenwärtige stumme Mädchen mit den gestriegelten Zöpfen, das jetzt mit sicherer Hand just den Brief aus der Papiermenge zu ziehen scheint, der Albert eifersüchtig machen könnte. Das wird er nicht, aber trotzdem: Sieh mal an, die kleine Petze. Regisseur Ingo Kerkhof lässt sie fast immer alles sehen, Mitleid scheint sie nicht zu haben, neugierig und im Bilde ist sie und trägt schon die Werther-Farben (blau und gelb), bevor Werther selbst wissen kann, dass er traurige, aber nachhaltige Berühmtheit erlangen wird.
Werther: der rumänische Tenor Ioan Hotea, dessen nach oben absolut noch offenen Karriere man beim Erblühen zuschauen kann – mit gutem Grund, ist seine Stimme doch so licht und leicht, so schlank, sicher und unbekümmert, sein Auftreten auf der Bühne zugleich so ansehnlich und angenehm. In Wiesbaden und zum Glück für Regie und Publikum ist er einer von vieren, die wirklich vier junge, hübsche Leute sind. Kerkhof, dessen Herkunft aus der Sprechtheaterregie besonders sicht- und auch fruchtbar wird, baut das nicht zuletzt mithilfe der Kostüme der ungezwungen heutigen Kostüme von Britta Leonhardt ist, plausibel aus. Das Quartett ist melancholisch, aber beweglich, im Sommer richtet es sich auf dem Rasen unterm Baum ein, als säße es (durchweg bekleidet!) gleich für Manets „Picknick im Grünen“ Modell.
Als Charlotte ist Fleuranne Brockway mit großem, das Dramatische der Situation voll erfassendem Sopran zu erleben. Charlotte als Mensch wie Stimme reifer als Werther, der vom Gebaren her fast besser zur jüngeren Schwester Sophie passen würde, Anna El-Khashem mit zwitscherigem Liebreiz. Der gediegene Bariton Christopher Bolduc als Albert ist wiederum zweifellos der passende Mann für Charlotte, selten, dass man das auf der Bühne so gut sehen kann. In einer Gestalt wird auch besonders deutlich, dass Kerkhof es an keiner Stelle auf eine Karikatur anlegt. Nur mit der Schaukelpartie am Ende verzettelt sich die Regie ein wenig. Der Bühnentod: dass immer noch ein Symbolbild und noch eins dafür her muss.
Dem feinen Gesang entspricht der schlanke Orchesterton. Unter der Leitung von Peter Rundel ist ein weder besonders süßer noch ein gestriger Massenet zu hören, kristallklar und Schärfen nicht meidend zeigt er sich in seiner zeitlosen Gestalt.
Staatstheater Wiesbaden: 22., 26. Dezember, 13. Januar. www.staatstheater-wiesbaden.de