Unterm Neonröhrenbogen und durchs Vorhangsloch

Das Premierenwochenende am Schauspiel Frankfurt zeigt, wie unterschiedlich Textberge bewältigt werden.
Ein ausführliches Frankfurter Premierenwochenende widmete sich zwei großen Textmengen; Textmengen von einer Art, die Schauspielabenden einerseits widerstreben – wirklich viel Text, das eine ein Roman, in dem zwar andauernd gesprochen, aber noch mehr gewartet wird, das andere ein handlungsfreies Konvolut. Andererseits wissen Theater das zu schätzen, die Literaturadaption und die Handlungsfreiheit sowie speziell diesen Autor und diese Autorin. Franz Kafkas „Das Schloss“ wurde von Robert Borgmann, 1980 in Erfurt geboren, im Schauspielhaus inszeniert, Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ am Vorabend von Milos Lolic, 1979 in Belgrad geboren, in den Kammerspielen.
Robert Borgmann hat sich offenbar vorgenommen, das Publikum zu zermürben und womöglich zu Tode zu langweilen, ihm zugleich aber zu demonstrieren, dass er etwas drauf hat, und zwar dreieinhalb Stunden lang. Das Zermürbende und das prätentiös Hippe wird überdeutlich während des unendlichen Endes. Borgmann vermittelt auf den letzten Metern noch eine bescheidene Botschaft – sie lautet: Wer sich nicht beizeiten trollt, der bleibt hängen und wird dick und traurig. Damit ist K. gemeint, sofern man der Handlung folgen kann – eigentlich kann man nicht, darum geht es auch nicht, es geht nicht um Kafka –, aber natürlich sagt das auch dem Zuschauer zu diesem Zeitpunkt etwas ganz Persönliches.
Auch will Borgmann nun dem Publikum mit einem langen Zitat aus T. S. Eliots „The Waste Land“ den Rest geben, als wäre bisher einfach zu wenig gesagt worden. Eliot passt immer, wenn eine geheimnisvolle und doch zertifizierte (es ist T. S. Eliot!) Anhebung des Niveaus erwünscht ist. Dazu kommt, dass sich die Welt dem verzagenden K. zweifellos als ödes Land darstellt. Dass man nicht lang suchen muss, um zu rekonstruieren, dass Borgmann schon in seinem Stuttgarter „Richard III.“ 2014 tüchtig Eliot hineinassoziierte, macht es nicht interessanter. Es ist also nicht nur beliebig, es ist auch noch Routine.
Lolic hat sich all das nicht vorgenommen.
„Das Schloss“ spielt in einem ebenfalls von Borgmann entworfenen großen schwarzen Raum, Mauern und rudimentäre Sanitäranlagen links und rechts, Wasserhähne, aus denen Sand rieselt, eine Toilette als einzige Sitzgelegenheit. Der Untergrund teils sandig, niedrige Ebenen verschieben sich ein wenig, bei aller Kahlheit findet man sich nicht gut zurecht, wie ja auch der glücklose K. nicht. Markant und eindrucksvoll der gewaltige, aus zahllosen Neonröhren zusammengesetzte Bogen darüber, der viele Variationen stets kalten Lichtes erzeugt. Auch das Publikum muss gewärtig sein, plötzlich im Hellen zu sitzen.
Während es am Anfang – und immer mal wieder – sehr dunkel ist, hört man ein schweres Atmen. Das klingt verheißungsvoll, und es fällt Borgmann ohne nicht schwer, für Stimmung zu sorgen. Nun sieht man einen nackten, sehr beleibten Mann (einen, wie sich nachher zeigt, schlanken und notwendigerweise sportlichen Mann in einem entsprechenden Kostüm von Thea Hoffmann-Axthelm). Der Mann zieht mühselig und schläfrig seine Kreise, das geht eine Weile so – wenn das eigene Zeitgefühl mit Borgmanns nicht kompatibel ist, hat man von vornherein ein Problem.
Düster dräuender Klangteppich wabert über den Szenen
Es ist nicht nötig, übermäßig viele Filme gesehen haben, um zu verstehen: Das ist K., so endet es mit ihm (nicht bei Kafka, aber bei Borgmann), und jetzt kommt die Rückblende. Das heißt, ein assoziatives (loses), mit teils gut aussehenden Bildern gepimptes Potpourri, gehalten in einer allgemeinen Alptraumstimmung. Entsprechend wabert über und unter den meisten Szenen ein düster dräuender Klangteppich (Borgmann und Philipp Weber).
Dass sich nichts entwickelt, nichts steigert, letztlich nichts tut, wird vor allem an der Person des K. selbst klar. Max Mayer ist ein unwiderstehlich präsenter Schauspieler, aber seiner hinreißenden Hysterie wird hier nichts weiter dazugeben. Sie hat keine Grundlage und keinen Zusammenhang und niemand sucht nach dem einen oder anderen. Max Mayer spielt wie Max Mayer in Reinform von Stunde zu Stunde, staunt, reckt sich, fällt in sich zusammen, flattert, zappelt, glotzt, schüttelt den Kopf (auch über sich selbst). An dieser Stelle ist man sogar bereit, stundenlang zuzusehen. Von K. ist trotzdem kaum etwas zu bemerken.
Um ihn herum eine von Hoffmann-Axthelm mit abwechslungsreicher Kostümierung begleitete Scharade, bei der die meisten Darsteller mehrfach die Rollen wechseln, ein hier sinnvolles Unterfangen. Dass K. immer wieder das Problem hat, Personen nicht wiederzuerkennen oder zu verwechseln, wird er mit etlichen Zuschauern teilen. Wie überhaupt K.s Problem festzustecken, sich darüber zu ärgern und doch zum Abwarten verdammt zu sein und schließlich nicht mehr zu wissen, worauf er wartet, über die Zeit ein Grundgefühl auch im Zuschauer bezeichnen kann.
Katharina Bach ist vor allem eine kapriziöse Frieda, stets eine Spur, bald entschieden zu hochgestimmt und auch die Arme hochwerfend. Eine Hochdramatische, man hat verstanden. Wunderlicher das ineinander verschlungene zwillingshafte Paar der untauglichen Gehilfen, Stefan Graf und Samuel Simon. Isaak Dentler ist vornehmlich der bucklige Wirt, Wolfgang Pregler der unverbindliche Vorsteher. Auch ein goldiges Kind wird auf der Bühne platziert. Ein anderer Typ, aber ebenfalls immerhin ein Typ: Katharina Knap als geerdete Wirtin, dann als nach der Pause lange monologisierende Olga. Ein starker, ruhiger, uferloser Monolog, gefolgt von einem Szenenapplaus, aber sonst im Grunde von nichts.
Die Konzentrationsleistung des Ensembles wird weit mehr gefordert als die des Publikums, an das nicht wirklich eine Aufforderung zum Mitdenken ergeht. Zu nennen sind dabei vor allem Heiko Raulin und Altine Emini, die gegen Ende, als sich eine gewisse Gelähmtheit auf beiden Seiten des Saals breit macht, noch im großen Stil an die Reihe kommen. Raulin ist zuvor schon ein Momus, der plötzlich einen eisig ausgenüchterten Ton in die allgemeine Atmo hineinbringt, da denkt man vielleicht noch, jetzt kommt’s. Zum Schluss muss er die Eliot-Passage rezitieren, Emini – zwischendurch mit dem obligaten Popsong zu erleben – muss danach als Pepi schwätzen und zwitschern, als wäre es nicht 23.05 Uhr und als gäbe es doch einen Plan. Die Länge des Abend ist natürlich nicht das Problem, sondern lediglich ein Symptom. Es ist aber eben ein Symptom, auf das man in jedem Augenblick gestoßen wird. So vergeht die Zeit, aber nicht wie im Fluge.
Das Frankfurter Premierenpublikum lässt sich auf den provozierenden Teil einer solchen Geduldsprobe nicht ein. Ein einzelnes Buh vor der Pause, in der ein deutlicher Teil der Menschen das Feld räumt. Ein buhfreier, allerdings auch nur sehr partiell euphorischer Schlussbeifall seitens der Verbliebenen.
„Am Königsweg“ spielt rund um einen bonbonfarbenen Theatervorhang. Einer von Evi Bauer ausgedachten Theatervorhangimitation, die sich entsprechend nicht öffnen lässt. Stattdessen wird ein kreisrundes Teil herausgehoben, durch das sich nach und nach die von Jelena Miletic opulent verkleideten Darsteller sehen lassen. Die Textkaskaden, die Jelineks Beschäftigung mit US-Präsident Trump und jenen, die ihn zulassen (wir alle), widerspiegeln, werden nach Jelinek-Art durch die Reihen gereicht. Reihen, die hier zwar amerikanische Lebensart vermitteln, aber sonst gezielt gar nichts. Die tonangebenden ersten Sätze – in der Hamburger Uraufführung im vergangenen Herbst der Autorin selbst zugeordnet – spricht Wolfgang Vogler als Astronaut. Er tritt wie arglos von der Seite hinzu. „Von wem will ich da überhaupt sprechen, darüber muss ich mich mit mir verständigen.“ Zwanglos geht es weiter, auch ziemlich unterhaltsam. Pamela Anderson (Sarah Grunert) taucht im Vorhangloch auf (und erinnert zugleich an Melania Trump), Freddy Krueger (Heidi Ecks), ein Sportler (Nils Kreutinger), ein Cäsar (Michael Schütz), nachher Alf, eine Kellnerin, Spock, Dana Scully (oder?), diverse Horrorfilmfiguren, aber auch ein Mozart-Typ. Der Westen breitet sich vor uns aus. Trump wird nicht genannt, ist weit und breit nicht zu sehen und wird nicht vermisst.
In Alfs Fell steckt der Tänzer Luciano Hiwat und tanzt eine Runde kompliziert, ohne Musik in zwei insgesamt musikfreien (und pausenlosen) Stunden. Zwei Stunden auch ohne Bedeutungshuberei. Das gibt Jelineks gerechtem Zorn und selbstkritischer Anklage – in einem Text, in dem die Wortakrobatik allerdings etwas Gewohnheitsmäßiges hat – zumindest die Gelegenheit zur Entfaltung. Höchstens könnte beiläufig vermittelt werden, dass kompliziert zu tanzen geschmeidiger ist, als kompliziert zu reden. Der umständliche Abbau des Theatervorhangimitats könnte darauf aufmerksam machen, dass Theater ein totales und nicht einfach zu handhabendes Konstrukt ist. Selbst da drängt sich Lolic aber nicht auf.
Zum Finale geht es noch nach Fernost, trippeln alle als Karnevalsgeishas über die inzwischen geleerte Bühne. Das ergibt einen sehenswerten Kontrast zur bitteren Erkenntnis: „Alles verstummt, das Wort ist außer Sichtweite und riecht einem andren am Arsch, dann geht es halbwegs unbeeindruckt dort vorbei. Das ist der Königsweg.“
Immer wieder kann man den Eindruck gewinnen, dass Jelineks Texte Schauspieler animieren und inspirieren, als würde das Schlechtgelaunte, aber doch Hellwache der Sprache sich unmittelbar auf die Sprechenden übertragen. So auch hier. Dazu passt der muntere Beifall.