Unter Soldaten

Das Stuttgarter Schauspiel zeigt „Othello“ unter veränderten Vorzeichen, aber äußerst plausibel.
Das Packendste am packenden Stuttgarter „Othello“ ist das Verwickeltwerden in eine Geschichte, die man bis zum Überdruss kennt und die sich hier ruhig und böse entfaltet wie beim ersten Mal. Ein so erzählerisches Theater, so grundlegend spannend, mit Lust daran, spannend zu sein, spannende Szenen zu erarbeiten, gibt es nicht so oft, wie man meinen könnte, wenn man den Theatern zuhört. „Wir müssen Geschichten erzählen“, sagen viele Theater, aber häufig wird es irgendwie nichts oder nur etwas Halbes. Theater ist halt anders und eh kein Kino, sagt man sich dann.
Dazu ein sehr gutes Ensemble und eine Regie, die einen Plan verfolgt. Seit Shakespeares „Othello“ kein schwarzbemalter Weißer mehr sein soll, wurde um die Frage seiner Stellung und Rolle gehadert, teils mehr, teils weniger produktiv. Burkhard C. Kosminski wählt eine offensive Variante. Dass sie nicht besonders weh tut, macht sie nicht weniger schlüssig. Auch leitet sie, das kommt gleich, eine Verschiebung in den Motiven ein.
Der israelische Schauspieler Itay Tiran ist auffallend hell und blond, aber die deutsche Sprache, hier auf der Grundlage von Frank Günthers modernem, aber nicht simplem Shakespeare-Deutsch, macht ihm natürlich zu schaffen. Er gibt sich unheimlich Mühe, aber er ist im Nachteil gegenüber denen, die durch den Satzbau flitzen, als wäre es nichts. Ein zusätzlicher Stressfaktor. Othello aber, der hörbar Fremde, ist der zugleich wohlweislich superangepasste: schneeweiß und tipptopp gebügelt sein Hemd, während die Kameraden – so heißt es wohl unter Soldaten, und eine Flotte von heute (Kostüme: Ute Lindenberg) ist Othellos Arbeitsplatz und Leben – sich nach dem Sieg in Schweiß und Alkohol auflösen.
Othello hat sich glänzend im Griff, ein Modellathlet und Gentleman. Tiran und Kosminski zeigen unaufdringlich, wie er nicht nur auf sein Äußeres achtet, sondern auch ein glänzender Soldat ist, bei der Lagebesprechung hervorragend vorbereitet und technisch versiert. Die Schlacht dirigiert er zu dröhnend frisierten Klängen aus dem „Fliegenden Holländer“ (Musik: Hans Platzgumer). Seine Traumatisierung hingegen tritt erst zutage, als Jago schon angefangen hat, seine infame Intrige zu spinnen.
Eine Setzung: In Stuttgart ist es eigentlich weniger Othellos Unsicherheit, die ihn empfänglich macht für ein dermaßen unwahrscheinliches Eifersuchtsszenario (Cassio hier mit Michael Stiller besetzt, der einen älteren, unauffälligen Menschen präsentiert), sondern seine Prägung durch ein Leben im Krieg, seine Vorstellung von Frauen und seinen Gefühlshaushalt überhaupt. Desdemona weiß nicht, dass sie einen völlig verstörten Mann geheiratet hat. Im Traum sieht er und sieht das Publikum an den weißen beweglichen Bühnenwänden (Florian Etti) Kampf- und Abu-Ghraib-Situationen, ein Bilderschnipselgewitter, in dem auch Tiran zu erkennen ist, als Nahkämpfer, Vergewaltiger, Folterer, vielleicht auch Gefolterter (sein Rücken: vernarbt). Selbst wenn die Flut der Aufnahmen (Video: Sebastian Pircher), wie es bei sorgfältig gestalteten Filmeinspielungen oft vorkommt, etwas selbstverliebt und ausführlich wirkt, baut sich doch eine eindrucksvolle Mauer zwischen Othello und seiner Frau auf.
Auch ohne Jago, muss vermutet werden, wäre das nicht gutgegangen. Mit Jago, dem grimmen, aber nicht mephistophelischen, eher sauertöpfischen Matthias Leja, beschleunigt sich das aber sehr. Dessen Fremdenfeindlichkeit, der auch das letzte, überdeutliche, aber plausible Wort der Aufführung gehört, ist unübersehbar und dem Schuft Mittel zum Zweck. Es fällt ihm nicht schwer, den schönen, jungen, blonden General den anderen als nur zivilisatorisch übertünchten „Wilden“ vorzuführen. Das Konstrukt des Rassismus: Hier ist es doch, zeigt aber seine Absurdität. Es ist nicht notwendig, anders auszusehen, die anderen müssen nur glauben, man wäre anders.
Auch hier verstärkt Kosminski den bereits starken Eindruck, indem Tiran sich wie von ungefähr mit einer Art Kampftarnfarbe bemalt und sein Trauma schließlich den Traum verlässt: Ein desorientierter Othello läuft (in einer sonst stillen Inszenierung) schreiend über die Bühne. Othello ist ein Mann, der schon Frauen geschlagen hat, jetzt schlägt er Desdemona. Katharina Hauter zeigt sie nicht als Engel, auch trägt sie ihr Herz nicht auf der Zunge. Sie ist eine Frau mit Entschlossenheit und eigener Geschichte, gelungen die Eingangsszene mit dem beleidigten, etwas übergriffigen Vater (Elmar Roloff), den teils amüsierten, teils verlegenen Offizieren.
Die Stuttgarter gestalten etliche prächtige Ensembleszenen, dazwischen die zunehmend entgleisende Zweierbeziehung, die Kosminski in blutrotem Regen enden lässt. Eine Spur von Pathos hier und da, andererseits weint man selten über Othello und Desdemona, aber hier ist es möglich.
Schauspiel Stuttgart: 10., 21., 24. Mai. www.schauspielstuttgart.de