Timofej Kuljabin zeigt „Macbeth“ am Schauspiel Frankfurt: Im schwarzen Loch

Das Böse ist nicht interessant, aber effizient. Timofej Kuljabin braucht am Schauspiel Frankfurt wenig Blut, um Shakespeares „Macbeth“ groß und aktuell zu erzählen.
Unter den Schurken und Tyrannen der Weltliteratur ist William Shakespeares Macbeth nicht der komplizierteste, nicht einmal der böseste. Er ist verführt worden und er hat sich verführen lassen – anders als sein Freund Banquo, da man schon in Vorzeiten nicht so dumm sein musste, den Einflüsterungen windiger Wesen Glauben zu schenken. Auch psychologisch faszinierend ist er nicht, dieser übersteigerte Ehrgeiz, der über Leichen geht, denn im Resultat lässt sich nichts schönzureden.
Trotzdem kann Macbeth ein Publikum ein wenig für sich einnehmen, indem er am Ende die Konsequenzen trägt und im Feld stirbt, das er selbst bereitet hat. Nicht allerdings in Frankfurt, wo er dem ins Ausland geflüchteten Gegner Macduff – entsprechend einem auch aktuell wieder vertrauten Vorgehen von Gangsterregimen – einen Mörder hinterhergeschickt hat. In Frankfurt gibt es allen Ernstes nicht einen einzigen Überlebenden außer Macbeth selbst, der insofern als Sieger vom Platz trabt, von der Bühne schlendert: für die Welt düstere Aussichten, für den Titelhelden kein Untergang mit einem Rest von Noblesse.
Im Schauspielhaus inszeniert der russische Exilregisseur Timofej Kuljabin und lässt sich auf vieles gar nicht erst ein: übernatürliche Kräfte, aufgebrachte Natur, Ströme von Blut, womöglich gar schottisches Mittelalter. Stattdessen konzentriert er sich auf den Weg eines Machtmenschen nach oben in einer Gesellschaft, in der Öffentlichkeit, PR und Medien eine zentrale Rolle spielen, also durchaus der hiesigen, unsrigen.
Kuljabin führt das straff, deutlich und doch subtil genug vor. Sein Ansatz, der nicht abwegig, nicht einmal sonderlich originell ist, nimmt Fahrt auf, indem auf der Riesenbühne nicht nur konzipiert, sondern auch glänzend umgesetzt und vor allem glänzend gespielt wird. Viele Szenen sind messerscharf durchgefeilt, großes Theater und finsterer Gegenwartsblick eliminieren sich nicht gegenseitig. Man lernt dabei nicht viel Neues, aber man erlebt etwas.
Zunächst einen unsicheren Macbeth, der außerdem zu spät kommt. In der tristen steilen Halle – mal Betonbunker, mal Saal mit verkleisterten Fenstern – des vor allem durch Licht wandelbaren Bühnenbildes von Oleg Golovko stehen Mikro, Scheinwerfer und ein Grüppchen ernster Rollkragenpulliträger (Kostüme: Vlada Pomirkovannaya) bereit.
Es dauert eine Weile, bis Moritz Kienemann hereinhuscht, kleiner und zarter als gedacht, das Mikro zu hoch, und der Text, huch, ist ja auch falsch. Wollte er nicht gerade sagen: „Nun ward der Winter ...“, als sein großer Moment schon wieder vorbei ist? Sollte Macbeth versucht haben, sich durch Unpünktlichkeit wichtig und mit Worten des künftigen Richard III. (ebenfalls von Shakespeare, immerhin) interessant zu machen, hat es nicht funktioniert.
Auch in den nächsten Szenen sehen wir ihn als geschätzten Mitarbeiter unter anderen. Der alte, tüdelige König Duncan, Peter Schröder, lobt ihn, nennt ihn Sohn, aber er nennt in seiner sanften Senilität auch andere Sohn und ruft – in einer Textabkürzung, die zwei Figuren zusammenfasst – Macduff, Torsten Flassig, als seinen Thronerben aus. Logisch: leibliche Vaterschaft spielt in der politischen Welt zwar eine Rolle, aber keine vorrangige. Beim heiter sommerlichen Grillfest auf Kunstrasen – Höflinge, nein, Angestellte bauen immer wieselschnell um – ist Macbeth einer von vielen. Seine Frau, Lotte Schubert, erkennt man nur daran, dass sie eine Nuance verdrossener ist als Lady Macduff, Anna Kubin, die künftige Königin.
Es ist eine niedliche Kindergruppe – nicht seine, nicht ihre Kinder –, die Macbeth und dem total entspannten Banquo, Mark Tumba, die problematischen Weissagungen als Reimespiel serviert. Macbeth wird das Hirngespinst nicht mehr los. In einer zuerst konventionell wirkenden, dann doch imposanten Sex- und Machtfantasieszene unter der ungemütlichen Bunkerdusche steigern sich der unterwürfige Macbeth und die dominante Lady in den ersten Mordplan (Duncan muss weg) hinein. Kienemann und Schubert schaffen es, das zugleich tatsächlich als Szene einer Ehe darzustellen. Die Macbethens scheinen so etwas häufiger zu tun, aber normalerweise geht es dabei gewiss nur um ein intimes Vergnügen, nicht um ein Attentat. Kuljabin braucht nicht nur kein (sehr wenig) Blut, er braucht auch keine Nacktheit, um auf den Punkt zu kommen.
Leichensäcke mit wilder Nummerierung dokumentieren bald, was hier los ist. Der frischgebackene Tyrann, der keine Rücksichten mehr zu nehmen braucht, bleibt zugleich der Wicht, der er war. Kienemann, ein virtuoser Schauspieler, grinst gespenstisch (wie ein Kind, das Klaus Kinsky spielt), bewegt sich tierisch flink. Außer seine Macht durch Gewalt zu sichern, hat dieser Macbeth aber keine Regierungsgeschäfte. Kienemanns rasender Leerlauf demonstriert, dass man nicht zu tief schürfen muss, wenn es um die Psychologie des Bösen geht. Es ist, das lohnt sich zu betonen, nicht die Schuld der anderen, dass Macbeth handelt, wie er handelt. Denn aktuelle Anknüpfungspunkte sind offenbar, ohne dass Kuljabin das groß herausstellt. Er spielt ein bisschen damit: das Gerangel am extralangen Tisch, Macbeth’ rote Krawatte, dazu die ständige Öffentlichkeit. Immer muss etwas vertuscht werden. Die Erschöpfung, die Überforderung, der nächste Mord.
Gemordet wird beiläufig, oft irgendwo hinten. Die Szene, in der Macbeth seine Macht am opulentesten auslebt, ist die, in der er vor versammeltem Hofe Äpfel frisst. Eine solche Äpfelfresserei ist nicht oft zu sehen (und Äpfel werden ganz gerne auf der Bühne gegessen). Was mögen das für Äpfel sein? Und ist das Böse so öde? Zweitere Frage lässt sich beantworten: aber ja, genau.
Dass Macbeth, das schwarze Loch, grinsend und schmatzend, so deutlich im Mittelpunkt steht, geht auf Kosten der Lady, die Lotte Schubert mit großartiger Natürlichkeit spielt, auch in einer sensibel gestalteten Wahnsinnsszene. Aber dann muss sie doch fix auf die Seite der nummerierten Toten wechseln. Es ist zugleich ein Abend der Details, so sehr Macbeth die Bühne dominiert, so interessant sind doch die anderen, ausgeleuchtet gelegentlich gemäldehaft. Keine Typen, sondern Menschen, aber Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen. Man erfährt von ihnen nur, was sie zeigen wollen oder was sie versehentlich zeigen.
Der lächelnde Schröder, mit Stock auf wackeligen Beinen, bietet das fabelhafte Bild eines Mächtigen aus einer Zeit, als Macht sich von selbst verstand. Flassigs Macduff hingegen bedient die PR-Erwartungen exzellent. Seinem Vater singt er zur Feier des Tages Frank Sinatras „My Way“, dessen Zeile, dass das Ende nah sei, angesichts des fragilen Greises eine zynische (hoffende, drohende) Note hat. Der Hof kommt aber in Schwung, es wird mitgeklatscht. Gibt es etwas Peinlicheres, als bei „My Way“ mitzuklatschen? Gibt es nicht. Der Alte hat ganz feuchte Augen.
Schaurig spiegelt Kuljabin das nachher in Kienemanns Darbietung von „Blueberry Hill“. Im Internet kann man sich anschauen, wie Wladimir Putin den Song 2010 bei einer prominent und international besetzten Spendengala in St. Petersburg sang. Die Welt braucht wirklich keine Hexen, um ein unheimlicher Ort zu sein.
Die Klanguntermalung von Timofey Pastukhov ist eine Dauerdrohung, aber keine leere. Am Klavier auf der Bühne: Yuriy Sych. Verwendet wird die Übersetzung von Dorothea Tieck. Die Textverständlichkeit ist unterdurchschnittlich, dabei wird mit Verstärkung offenbar dezent nachgeholfen (und es ist ja schöner, wenn nicht alles über Mikrofone geregelt wird). Vielleicht muss man aber nur noch schnell über etwas Formales sprechen, um den Schrecken abzuschütteln.
Schauspiel Frankfurt: 21., 24., 27., 28. April, 4., 8., 10., 21., 27. Mai, 3. Juni. www.schauspielfrankfurt.de