Timofej Kuljabin: „Das ist alles ein sehr altes sowjetisches Lied“

Der Regisseur Timofej Kuljabin über anderthalb Jahrzehnte destruktive Kulturpolitik in Russland, die zunehmenden Eingriffe in die Theaterarbeit und seinen „Macbeth“ für das Schauspiel Frankfurt.
Herr Kuljabin, Macbeth’ Tyrannei passt in einen Theaterabend, Putins Regierung währt lange. Gibt es trotzdem Parallelen zwischen den beiden?
Parallelen ist kein treffendes Wort in diesem Fall. Ich glaube nicht, dass die Stärke der Kunst darin liegt, Parallelen zur realen Welt zu bilden. Ich würde das anders sagen: Politische und gesellschaftliche Realität bildet einen Kontext und bestimmt unsere Wahrnehmung, unsere Blickrichtung. Meistens sind die gesellschaftlichen, politischen Gegebenheiten nicht so mächtig, nicht so verheerend. Und da bildet man sich gerne ein, diese oder jene Aufführung sei „zeitlos“, sie messe sich nur am Autor selbst und so weiter. In Wirklichkeit ist das nie so, weil wir alle nicht in einem abgeschiedenen Schloss leben. Aber dann kommen die unseligen Zeiten, wie die unseren jetzt, und die bekannten Geschichten stehen plötzlich in einem anderen Licht. Die Planung für diese Aufführung hat vor zwei Jahren begonnen, und wenn ich das Stück hätte damals inszenieren müssen, wäre das ein ganz anderer „Macbeth“ gewesen.
Was kann uns Macbeth in diesen Tagen sagen? Was sagt uns die Lady, was sagen uns die gruseligen, aber einflussreichen Hexen?
In der heutigen Welt interessiert mich vor allem nicht Macbeth als eine Einzelfigur, sondern als eine Figur in einer Umgebung. Es gibt ihn selbst, seine Träume, seine Wünsche, seine Energie, seinen Verstand, seine Dummheit – und es gibt diejenigen, die ihm alles ermöglicht haben, oder nichts verhindert haben. In diesem Sinne sind für mich die Hexen irrelevant, und die wird es in der Aufführung nicht geben. Die übernatürlichen Kräfte können heute nichts erklären.
Interessant der totale Untergang des Tyrannen, der einem zu diesem Zeitpunkt fast schon leidtun kann. Was halten Sie von diesem Ende? Ist es ein hoffnungsvolles, damals und heute?
Es gibt mindestens zwei „damals“: Die historische Zeit, die im Stück beschrieben wird, und die Zeit ihrer Entstehung. Zu beiden kann ich herzlich wenig sagen. Man soll nur beachten, dass Shakespeare seinen „Macbeth“ durchaus an die politische Situation angelehnt hat. Was das Heute angeht, so kann man nur sagen, dass dieses Finale vor allem eins ist, und zwar zu romantisch. Oder didaktisch, wenn man so will – das Böse wird bestraft. Das wird es in unserer Aufführung so nicht geben.
Für Shakespeare als guten Elisabethaner ist das durch die Gewaltherrschaft verursachte gesellschaftliche Chaos der reine Horror. Wie passt Präsident Putin da rein? Ist er aus Sicht vieler Menschen in Russland eher ein Garant für Stabilität?
Jetzt wahrscheinlich nicht mehr. Aber er war das für viele ohne Zweifel, viele Jahre lang. Im Prinzip wussten gerade Kulturschaffende, dass all das nur eine Kulisse ist, weil die ganze Kulturpolitik seit 15 Jahren einfach nur destruktiv war. Unter dem Vorwand, Traditionen zu verteidigen – was in Wirklichkeit nie stattgefunden hat, weil unsere Kulturfunktionäre von den wirklichen Traditionen keine Ahnung haben –, hat man Festivals und Zeitschriften geschlossen, eine Unmenge von absurden Verboten wurden gesetzlich verankert. Letzten Endes kam die sogenannte „besorgte Öffentlichkeit“, die von der Macht unterstützt und geduldet wurde – sie hat Ausstellungen und Aufführungen gestört und angegriffen. Das war, noch einmal, von vornherein absolut destruktiv. Wenn eine fertige Aufführung von heute auf morgen abgesetzt wird, weil irgendein Beamter an irgendetwas Anstoß genommen hat, an welche Stabilität kann man da noch glauben.
Wie schätzen Sie die aktuelle Stimmung in Russland ein?
Ich bin seit bald zwei Jahren nicht mehr dort gewesen. Da muss man sehr vorsichtig mit den Einschätzungen sein. Wenn ich das Bild in den Medien und in sozialen Netzen analysiere, so ist die Stimmung im Allgemeinen vor allem durch eine große Gleichgültigkeit geprägt. Die meisten Menschen versuchen die Konsequenzen für sich persönlich zu minimieren, und das ist schon alles. Aber man muss sich bewusst darüber sein, dass die Information extrem manipulierbar ist und häufig zu Manipulationszwecken hergestellt wird. Ich verlasse mich jedenfalls eher darauf, was ich aus der Kultur und Geschichte über das Verhalten der Russen in den Umbruchszeiten gelernt habe. An der Oberfläche sind alle einverstanden und regierungstreu, aber sobald sich die Lage ändert, wird keiner dieser Regierung ein einziges gutes Wort hinterhersagen, geschweige denn, sie tätig unterstützen.
Für Sie war die Ukraine-Invasion der letzte Anstoß, in die Emigration zu gehen. Der Konflikt um Ihre eigene „Tannhäuser“-Inszenierung in Nowosibirsk liegt schon acht Jahre zurück. Gab es aus Ihrer Sicht vor 2022 bestimmte Zäsuren?
Das Problem ist, dass das, was Sie als Zäsuren bezeichnen, in Wirklichkeit eine sehr allmähliche, langsame Bewegung von einem Zugeständnis zum anderen war, von einem Kompromiss zum anderen. Dabei haben viele Menschen einfach den Blick für die Grenze verloren, die nicht überschritten werden darf. Heute ist die Situation viel eindeutiger, bei vielen werden Erinnerungen wach, aber nach zwei Jahrzehnten der Kompromisse ist es sehr schwierig, auf irgendwelchen Prinzipien zu bestehen.
Wie schätzen Sie die Lage der Theater und Theatergruppen in Russland derzeit ein?
Ohne viel Optimismus. Erstens beginnen sie, ernsthafte praktische Probleme zu haben – Emigration und Mobilmachung fordern ihren Tribut. Zweitens das Problem mit dem Repertoire. Bisher haben die staatlichen Repressionen einzelne Künstler getroffen, die aus irgendeinem Grund jemandem nicht gefallen haben. Das ist schlimm, aber das kann man kaum als Zensur bezeichnen. Es handelt sich um die Verfolgung bestimmter Personen. Aber jetzt können wir sehen, dass sich die Repression allmählich auf das Repertoire ausweitet. Einige Themen werden aus den Spielplänen gestrichen, während andere aktiv gefördert werden. Kurz gesagt: bald wird jedes Theater mit der Notwendigkeit konfrontiert sein, etwas auf einen Befehl hin zu inszenieren, um diese offizielle Konjunktur zu unterstützen, das Publikum wird nicht hingehen. Gleichzeitig wird es einige talentierte unpolitische Künstler geben, die etwas zu sagen haben und geduldet werden... Und so weiter. Das ist alles ein sehr altes sowjetisches Lied, von dem wir hofften, es würde sich nicht mehr wiederholen. Es ist sehr traurig, dass es so ist. Nicht jede nationale Tradition muss gepflegt werden.
Zur Person
Timofej Kuljabin, 1984 in Ischewsk geboren, kam als 13-Jähriger nach Nowosibirsk, wo sein Vater das Theater Rote Fackel leitete und er selbst nach seinem Regiestudium in Moskau tätig war, zunächst an der Oper, dann auch am Sprechtheater. 2015 wurde seiner „Tannhäuser“-Inszenierung, die den Titelhelden im Venusberg als Christus-Figur zeigte, in einer politischen Kampagne Blasphemie vorgeworfen. Ein Gericht wies die entsprechende Klage zurück, der Opernchef, der Kuljabin verteidigt hatte, musste aber seinen Posten räumen. Kuljabin, der früh auch international Karriere machte, ging nach der russischen Invasion in die Ukraine vom 24. Februar 2022 ins Exil.
„Macbeth“ von William Shakespeare ist seine erste Inszenierung in Frankfurt. Premiere ist am Freitag, 14. April, im Schauspielhaus. Moritz Kienemann ist der Gast-Macbeth, Lotte Schubert spielt die Lady. www.schauspielfrankfurt.de
Was halten Sie von der Diskussion über Anna Netrebko?
Und warum gerade Netrebko? Gibt es etwas Besonderes an ihr? Die Fragen der moralischen, menschlichen Entscheidung mögen sehr eindeutig sein, aber sie sind dennoch individuell. Inwieweit ein Künstler Vorsprecher einer staatlichen Politik, Ideologie oder gar Propaganda ist, wie hoch seine persönliche Verantwortung ist – das sind alles individuelle Fragen. Natürlich stellen sie sich heute, aber eine allgemeine Antwort gibt es kaum. Und konkret über Frau Netrebko weiß ich nicht viel, wir sind uns nie begegnet.
Würden Sie selber mit ihr zusammenarbeiten?
Das ist eine sehr abstrakte Frage. Wo? Im Bolschoi oder im Mariinsky-Theater? Dort wird man mich nicht sehen wollen. Einige Theater der westlichen Welt werden wiederum Frau Netrebko wahrscheinlich nicht engagieren. Ja, und sie, wird sie mit mir arbeiten wollen? Ich glaube, sie und ich haben so unterschiedliche Vorstellungen von allem, dass es so weit nicht kommen wird, sich die Frage der politischen Differenzen zu stellen.
Hat sich eine russische Exilkunstszene entwickelt? Damit haben russische Intellektuelle ja schon tragische Erfahrungen.
Tragödien spielen sich heute in ukrainischen Städten ab, nicht in russischen Theatern oder Museen. Aber abgesehen davon, und wenn man den Begriff trotzdem verwenden will: Russische Intellektuelle erinnern sich noch gut an die Tragödie derer, die es nicht geschafft haben, rechtzeitig ins Exil zu gehen. Es gab die Erfahrung einer erzwungenen Emigration – für viele erwies sie sich im Ergebnis als fruchtbar, aber für viele verschloss sie die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Heute sind alle von tragischen Erfahrungen betroffen – die Zurückgebliebenen und die Weggegangenen. Hier wie dort gibt es Verluste. Für manche Menschen geht es darum, ganz von vorne anzufangen. Jemand hat bereits Erfahrung mit der Arbeit außerhalb Russlands. Manche sind hier besser bekannt, manche sind völlig unbekannt und befinden sich in einer schwierigen Lage. Alle stehen vor der Frage, ob sie versuchen sollen, ihre Verbindungen zur „russischen Szene“ irgendwie aufrechtzuerhalten oder den Weg der Assimilation zu gehen. Manche waren sowieso eher Weltbürger, oder, wenn Sie so wollen, Bürger der Kunstwelt als Bürger eines bestimmten Landes. Ich denke, erst in ein paar Jahren wird man darüber sprechen können, was sich entwickelt hat.
Ist es schwierig, Sprechtheater in einer Fremdsprache zu inszenieren?
Es hängt davon ab, wie viel Erfahrung man mit dieser Art von Produktion hat, wie wichtig für die konkrete Arbeit der Text an sich ist und wie gut man die Hausaufgaben gemacht hat. Wenn Sie mir diese Frage vor ein paar Jahren gestellt hätten, hätte ich wahrscheinlich gesagt, dass es furchtbar schwierig und fast unmöglich ist. Heute habe ich eine viel optimistischere Einstellung dazu – nachdem ich in vielen Ländern an Schauspielhäusern gearbeitet habe. Ich habe einen zweisprachigen Text vor mir, und nach einer Weile höre ich alles, was die Schauspieler sagen, so, als ob ich es wirklich verstehen würde ... Wenn es um verbale Nuancen geht, bin ich bereit, mir die Zeit zu nehmen, sie mir erklären zu lassen, und ich denke, es nützt nicht nur mir, sondern auch den Schauspielern, wenn sie Nuancen des Textes dem Regisseur erklären müssen, sie fangen an, über den Text nachzudenken, wo sie in einer anderen Situation etwas automatisch sagen würden.
Was halten Sie vom deutschen Stadttheater, wenn man das einmal so allgemein sagen kann? Wie unterscheidet sich die Arbeit hier von dem, was Sie aus Russland kennen?
Hand aufs Herz, ich sehe keinen großen Unterschied. Ganz allgemein gesagt, ist das deutsche Theater ökonomischer, sparsamer, was die Produktionszeit angeht, das heißt alles geht schneller und disziplinierter als in Russland. Und da muss man schon sehr gut kalkulieren, um nicht in die Klemme zu geraten. Aber das ist schon alles.
Was könnte eine gute Lösung für Russland sein? Und kann man hierfür etwas aus „Macbeth“ lernen?
Ich glaube nicht, dass es heute eine einzelne „gute“ Lösung für Russland geben kann. Es sei denn, wir sprechen von einem Fantasiereich, in dem sofort universeller Frieden und Verständigung herrschen sollten. Egal wie sehr wir uns so etwas wünschen würden, es kommt nicht. Und „Macbeth“ kann uns leider in dieser realen Zeit kaum etwas lehren. Denn es geht in diesem Stück nicht wirklich um Politik, sondern um eine Person, die sich für das Böse entschieden hat und mit den Folgen dieser Entscheidung konfrontiert wird. Aber Shakespeare sagt uns nichts darüber, was zu tun ist, um zu verhindern, dass die halbe Welt von einer solchen Person abhängig wird.
Übersetzung: Olga Fedyanina