Tanzausbildung: „Das Berufsbild ist komplexer geworden“

Dieter Heitkamp, lange Jahre Leiter der Tanzabteilung der Frankfurter Hochschule, über Konkurrenz, gestiegene Ansprüche und schlechte Bezahlung
Herr Heitkamp, Sie haben 24 Jahre die Tanzabteilung der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst geleitet. Als Sie anfingen, was waren da die Schwerpunkte dieser Ausbildung und welche sind es heute?
Als ich kam, war es die Ballettabteilung. Es gab zwar ein paar Lehraufträge für modernen Tanz, 1994 hatte mich Egbert Strolka (d. damalige Leiter der Abteilung, d. Red.) eingeladen, ein Projekt zu machen. Damals war ich noch nicht an dem Punkt, an dem ich in die Ausbildung gehen wollte, ich wollte damals eher die Arbeitssituation für Choreografen verändern und die Weiterbildung. Aber dadurch, dass er mich hereingeholt hat, habe ich an einigen Hochschulen unterrichtet. Als ich dann 1998 erfuhr, dass die Tanzabteilung auf der Kippe steht, weil Egbert Strolka und Russ Falen in den Ruhestand gingen und es für die Hochschule nicht klar war, wie es weitergeht, gab es eine klare Entscheidung, die Abteilung neu auszurichten und den Schwerpunkt zeitgenössischer Tanz hinzuzunehmen. Es war in Deutschland die erste Professur für „zeitgenössischen Tanz“, das hieß vorher immer moderner Tanz. Ich habe mir sechs Jahre gegeben, wenn ich dann keine Veränderung sehen konnte, wollte ich wieder gehen. Wir haben dann mindestens alle sechs Jahre die Studienordnung geändert.
Welche Änderungen waren das?
Einschneidend war 2006 die Diskussion innerhalb der ganzen deutschen Tanzausbildung-Institutionen über Bachelor und Master, wir haben damals zwei Master-Studiengänge hier an der Hochschule und an der Universität Gießen etabliert. Das war ein Einschnitt. Zum einen die Veränderung beim Bachelor, auf studierendenzentriertes Lernen ...
Indem die Studierenden selbst Schwerpunkte setzen?
Ja, dass es Wahlmöglichkeiten gibt, dass sie im dritten Jahr einen Schwerpunkt setzen können auf Zeitgenössische Techniken oder auf Techniken des Balletts, dass sie immer noch beides machen, aber trotzdem mehr darauf hin arbeiten können, wo sie später hinwollen. Dass sie das vierte Jahr mehr als Übergangsjahr gestalten, Praktika machen können, vielleicht schon Verträge, oder in die freie Szene gehen und ihre BA-Arbeit schreiben. Sie müssen dann nicht mehr präsent sein, was ja sowieso schwierig ist, da wir nur drei Studios haben. Es gibt heute eine Professur für zeitgenössische Tanztechniken mit somatischen Ansätzen, wir haben neue Formate wie Lecture Performances, haben angefangen, eine Projektwoche zu etablieren, wo drei Gastlehrende mit gemischten Gruppen – also auch die Masterstudierenden – arbeiten. Die erste Projektwoche beschäftigte sich mit Rhythmus. Eine andere mit Bill Forsythe. Oder mit Körperbildern. Was sich geändert hat, ist, dass Körperwahrnehmung Pflicht für alle Studiengänge ist ...
... also auch für die Schauspielausbildung?
Auch für Musik. Körper und Körperwahrnehmung ist ja das, was alle gemeinsam haben. Es wird hier auch interdisziplinär angeboten.
Für welchen Markt muss ausgebildet werden? Von Tänzerinnen und Tänzern wird, so mein Eindruck, ein immer breiteres Können verlangt.
Der Markt sind immer noch die Stadt- und Staatstheater. Wobei die Studierenden dann nach Nancy, Marseille oder auch eine Ballettcompagnie in Rumänien gehen, also sich international umsehen. Einige gehen auch in die freie Szene. Andere sind frustriert von den hierarchischen Strukturen am Theater und verlassen es wieder. Sie müssen heute eigentlich Allrounder sein. Das Bild des Tänzers, der Tänzerin, die einfach nur die Schritte ausführen, die der Choreograf, die Choreografin vermittelt, stimmt ja nicht mehr.
Wie kann man so eine künstlerische Selbstständigkeit fördern?
Improvisation und Komposition oder Contact Improvisation ziehen sich durch alle Jahrgänge. Eine choreografische Eigenarbeit ist außerdem Bestandteil des dritten Jahres. Das kann aber auch ein Video sein. In jedem Jahrgang lernen die Studierenden, zu verbalisieren, konzeptionalisieren, über Arbeitsprozesse nachzudenken, darüber, wie sie ihre Konzepte vermitteln. Wir müssen auch oft die bestehenden Bilder von Tanz verändern, darüber, was Tanz alles sein kann.
Die Konkurrenz der Ausgebildeten dürfte groß sein, es gibt ja nicht nur in Frankfurt eine Tanzausbildung.
Ja, aber von unserem dritten Jahrgang sind alle bis auf einen, der sich mit kleineren Projekten beschäftigt, untergekommen, machen Praktika oder haben Verträge durch das „Distanz Start Programm“. In Münster, Osnabrück, Bremen, Heidelberg, Wiesbaden ... sind sie alle untergekommen. Was die Bewerbungen betrifft: in allen Sparten sind die Bewerberzahlen durch Corona zurückgegangen. Wir haben immer noch 120 Bewerberinnen und Bewerber und nehmen zwölf, es waren aber schon mal 160, 170 Bewerbungen. Geändert hat sich, dass wir eine Vorauswahl mittels Videos treffen, was ich ökologisch und ökonomisch sinnvoll finde. Es müssen acht Minuten Ballett, drei zeitgenössische Kombinationen, eine Minute Improvisation zu einer bestimmten Musik gezeigt werden. Und nach 14 Minuten kann man schon ganz gut beurteilen, ob man jemanden näher kennenlernen möchte. Wir haben inzwischen auch einen Instagram-Channel ba_dance_hfmdk_frankfurt, wo wir transparenter machen wollen, was wir machen und wer wir sind. Aber durch Corona sind die Bewerberzahlen runtergegangen, viele haben sich die Frage gestellt, ob sie diese Ausbildung in einer so unsicheren Situation anstreben wollen.
Zur Person:
Dieter Heitkamp war von 1978–98 in der Tanzfabrik Berlin als Tänzer, Choreograf, Pädagoge und Organisator tätig und bis 1995 auch einer der künstlerischen Leiter. In dieser Zeit schuf
er 18 abendfüllende Stücke für die Tanzfabrik Berlin. 2001 wurde er Professor für Zeitgenössischen Tanz an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Seitdem ist er Direktor der Tanzabteilung.
Offiziell verabschiedet wird Heitkamp am kommenden Wochenende: „Blick zurück nach vorn“ heißen drei Aufführungsabende im Gallus-Theater, 19 Ehemalige der Tanzabteilung sind der Bitte gefolgt, kleine Choreografien beizusteuern: „Dances as long as pop songs“. Begleitend wird im Foyer eine Ausstellung mit Skizzen zu Choreografien und Objekten aus Projekten von Dieter Heitkamp aus den letzten 24 Jahren zu sehen sein.
Wie ist die Abteilung überhaupt durch die Pandemiezeit gekommen?
Wir hatten drei Monate Lockdown, wir haben damals innerhalb von zwei, drei Tagen ein Programm zusammengestellt. Leseaufgaben, Schreibaufgaben, Videos machen, eher Arbeit auf dem Boden als Ballettkombinationen im Raum. Wir haben auch zwei Jahre lang weniger Leute aufgenommen, weil es ja so etwas wie Quadratmeter-Regelungen gab. In einem 100-Quadratmeter-Studio durften acht Studierende sein plus ein Pädagoge plus ein Pianist.
Von wo kommen die Bewerbungen? Viele aus dem Ausland, auch von weiter her?
Ja, sechzig Prozent mindestens aus dem Ausland, fast siebzig inzwischen. Seit einem Jahr haben wir vermehrt Italiener und Spanier, in diesem Jahr erstmals zwei Kolumbianerinnen. Was weniger geworden ist, das sind Russland und China, dafür Korea. Aber auch Bewerbungen aus Skandinavien, aus Frankreich, das gab es in den Anfangsjahren nie. Die Leute, die kommen, wollen auch diese Mischung aus zeitgenössisch und Techniken des Balletts, sie wollen das gleichwertig machen. Man merkt schon an den Bewerbungen, ob sie auf die Website gegangen sind und die Studienordnung gelesen haben, dann können sie benennen, was sie an diesem Angebot interessiert. Das ist anders als früher.
Was lockt Bewerberinnen und Bewerber hierher, nach Frankfurt?
Die Atmosphäre, die Betreuung hier sind gut, wir nehmen ja maximal zwölf Leute. Im ersten Jahr sind im Moment noch drei Ukrainerinnen als Gäste hier. Wir wollen aber die individuelle Betreuung noch vergrößern. Im Schauspiel, im Gesang ist es ganz selbstverständlich, dass es Einzelunterricht gibt, da sind dann auch Mittel dafür da, im Tanz aber nicht. Von unserer Seite ist das gewünscht. Es wäre eines der Ziele der Abteilung. Aber die finanzielle Situation ist dramatisch, die Heizkosten sind höher, die Raummiete ist höher, das Land Hessen sagt, ihr müsst den Festangestellten mehr bezahlen – es gibt aber nicht mehr Geld. 19 Grad maximal für ruhige Körperarbeit, das ist schon grenzwertig. Wir haben jetzt Decken angeschafft.
Wie viele Ihrer Studierenden streben denn danach, sich selbstständig zu machen mit eigenen Projekten und Choreografien, also künstlerisch zu arbeiten?
Das geht selten sofort. Es gibt zunächst meist den Wunsch, am Theater zu arbeiten, vielleicht auch nochmal zu wechseln. Viele leben von einer Mischung aus Tanzen, Performen, Unterrichten. Das kenne ich aus meiner eigenen freien Zeit. Tänzer sind hier Dramaturg, dort Choreograf, dort Kurator – das Berufsbild Tänzer ist komplexer geworden, hat ganz unterschiedliche Facetten. Im Vergleich der Darstellenden Künste ist die Sparte Tanz aber immer noch die, die am wenigsten Kohle kriegt, die kleinste Lobby hat.
Sind Sie mit dem Erreichten zufrieden?
Ich bin zufrieden, die Tanzabteilung ist in einem guten Zustand. Und die Veränderungen werden weitergehen, da bin ich sicher.
Interview: Sylvia Staude