Shakespeares „Der Sturm“ in Stuttgart: Rasch verweht

Shakespeares „Der Sturm“, hurtig und sehr luftig am Staatstheater Stuttgart.
Der Sturm“, William Shakespeares vermutlich letztes und in jedem Fall unwiderstehliches Stück, entwickelt sich in Stuttgart ganz aus sich selbst heraus, aus dem Sturm nämlich. Das Ensemble inszeniert ihn mit Stimme und Donnerblech, und wenn der Regisseur Prospero es will, dann krächzt noch eine Möwe. Das Ganze ist Prosperos Inszenierung, allerdings lässt er sich eingangs aus dem Kasten der Souffleuse ein Textbuch anreichen. Es wird wohl Shakespeares „Der Sturm“ sein. Ehre, wem Ehre gebührt.
Dass Theater die erstaunlichste Kopfgeburt ist, die der Mensch mit wenig Aufwand zum Leben erwecken kann, zeigt sich im „Sturm“ seit je besonders intensiv. Wenn wir aus solchem Stoff wie Träume sind und unser kleines Leben von einem Schlaf umringt ist, so mag das wenig scheinen, aber es ist doch eine Menge. Für die Figuren im Stück, die damit gemeint sind, aber auch für uns, die wir uns ebenfalls gemeint fühlen müssen. Es ist alles, was wir haben. Es ist sehr kurz, es ist sehr lebendig.
Alles ist Theater. Mit Blick auf den „Sturm“ also kein neuer Gedanke, Stuttgarts Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski rollt ihn aber neu und unverdrossen auf. Der wichtigste Bestandteil in Florian Ettis Bühnenbild ist entsprechend der Raum selbst. Das brausende Meer ist eine riesige Stoffbahn, die herunterflattert und rasch wieder verschwindet, um durch eine ebenso gewaltige Papierbahn ersetzt zu werden: ein Vorhang für Prospero’sche Schattenspiele, bis Ariel sie mit einer Schaukel sensationell durchbricht und das Papier zum Bühnengebirge einknickt. Schließlich zerrt der/die fleißige Ariel aus dem Hintergrund eine Bühne auf der Bühne herbei, mit roten Vorhängen rundum. Das wirkt aber nicht überdeutlich (obwohl es das ja eigentlich ist), sondern eher hurtig.
All das steht zunächst einmal in Übereinstimmung mit der Flüchtigkeit von Träumen – wobei Träume interessanterweise immer erst hinterher substanzlos schaumig sind, im Traum selbst wirkt das meiste doch messerscharf. Es entwickeln sich zudem grandiose Szenen daraus (auch mit pfiffigen Gimmicks wie zum Beispiel einem verblüffenden Tischlein-deck-Dich). Der Übergang zwischen leichter Hand und einem doch allzu raschen Weginszenieren ist allerdings fließend.
Man muss den „Sturm“ nicht – auch wenn es sehr, sehr naheliegend ist – auf einen (anti-)kolonialistischen Gehalt hin lesen oder Prospero als diktatorischen Patriarchen verstehen. Es birgt aber die Gefahr ungewollter Arglosigkeit, wenn die Frage, wer Prospero ist, so ganz außen vor bleibt. Erst recht, wenn es, wie hier, so eindeutig sein Abend, seine Inszenierung ist. Was will er uns sagen, zeigen? Was will er denen zeigen, die er schikaniert und gängelt mit zauberischer Macht?
In Stuttgart ist er aber einfach der Schauspieler André Jung, ein älterer, konzilianter Herr, der erklärt, was Sache ist. Er spricht wie ein guter Schauspieler, wenn der gute Schauspieler spricht, wie man halt so spricht (verwendet wird die unaufdringliche Übersetzung von Jens Roselt). Ansonsten lässt er sich nicht weiter in die Karten schauen. Sollte das damit zusammenhängen, dass auch Prospero an den Fäden des Textes, des Autors und vor allem Kosminskis hängt, so wäre das ein genialisches Um-die-Ecke-Denken. Auf der phänotypischen Ebene erscheint es einfach unentschlossen.
Aber munter. Camille Dombrowsky ist eine wunderbare Miranda, frei, frech und am väterlichen Gängelband nur formal. Auch Caliban interessiert sie durchaus als eines der raren Lebewesen um sie her: Evgenia Dodina als fabelhaftes Vierfüßlermonster (Kostüme: Ute Lindenberg). Auch hier ist der Verzicht auf eine Deutung bedauerlicher, als man es in einer Theaterwelt der allgemeinen Überinterpretation gedacht hätte. Komplikationen psychologischer Natur fallen der straffen 105-Minuten-Fassung zum Opfer.
Liebreizend ist Marco Massafra als Ferdinand, Mirandas Künftiger. Der Liebe tut Kosminskis hohes Tempo gut, sie ist so unverschämt, lustig und gierig, wie sie sein sollte. Die übrigen Schiffbrüchigen sind insgesamt eine ulkige Truppe. Dass die Inszenierung hier zwischen komischen und ernsten Rollen nicht unterschiedet, ist zwar kurzweilig, nivelliert aber alles Restpolitische (Kabale, Hass, Machtkonstellationen). Stattdessen wird ausgezeichnet gesungen. Hans Platzgumer hat dafür unter anderem melancholische Hits von Purcell und John Dowland aufgearbeitet.
Wie Camille Dombrowskys Miranda steht auch Sylvana Krappatschs gewitzter, aber nicht possierlicher Ariel Prospero von vornherein mit kühler Skepsis gegenüber. Sie durchschauen ihn, es hilft ihnen bloß nichts.
Am Ende weht alles auseinander. Luftig, etwas zu luftig.
Schauspiel Stuttgart: 26., 28. April. 6., 14., 30. Mai. www.schauspiel-stuttgart.de