„Die Königskinder“ und „Rheingold“ in Erl: Die Speere des Herrn Wotan

Die Tiroler Festspiele Erl starten unter Leitung von Bernd Loebe einen neuen „Ring“ und testen Humperdinck.
Die Tiroler Festspiele in Erl hatten sich seit ihrer Gründung Ende der 90er Jahre einen Ruf als Alternativbayreuth für regietheatermüdes Richard-Wagner-Publikum erarbeitet. Eine schon allein angesichts der Diskrepanz an musikalischen Möglichkeiten etwas irre Ausgangssituation, möchte man meinen, jedoch rief auch jetzt ein Gast im abendlich belebten Erlerwirt aus: Bayreuth sei am Ende, „Katharina“ (gemeint ist immer Katharina Wagner) habe alles kaputt gemacht, denn „Katharina“ wolle immer wieder etwas Neues.
Lassen wir dieses antiwagnerische Cosima-Wagner-Credo einmal im Raum verklingen und staunen wir still darüber, wie sich eine Konfliktlinie bald 150 Jahre lang so beharrlich halten kann. Vielleicht hängt es mit unserer Neigung zusammen, stets selbst zu definieren, was das heißen soll: „Immer wieder etwas Neues“. In Erl hatten die Walküren unter Leitung des Initiators und Tonangebers Gustav Kuhn auch aufs Fahrrad umgesattelt.
Nach dem unrühmlichen Ende der Ära Kuhn, dem Musikerinnen sexuelle Übergriffe vorgeworfen hatten, übernahm 2019 der Frankfurter Opernintendant Bernd Loebe die künstlerische Leitung. Die Corona-Pandemie verlangsamte den Start, jetzt aber wird einige Sommerwochen lang umfassend gespielt (und dann wieder im Herbst und im Winter). Seit knapp zehn Jahren stehen dafür, sensationell, zwei große Bühnen zur Verfügung. Das mit Sünderleinsitzen bestuhlte Erler Passionsspielhaus aus den 50er Jahren sowie das 2012 eröffnete imposante und sehr effizient wirkende Festspielhaus (fabelhafte Sicht von einer steilen, demokratischen Tribüne aus, riesiger Orchestergraben, ausgetüftelte Akustik). Zwei schicke Gebäude, das eine weiß und rundungsreich, das andere schwarz und auf Zack. Sie stehen direkt nebeneinander auf der grünen Wiese wie eine Fata Morgana.
Im Passionsspielhaus setzt Brigitte Fassbaender nun einen neuen „Ring“ in Gang, den ersten Post-Kuhn-Ring. Die Bühnensituation ist erstaunlich. Das Orchester ist im Hintergrund untergebracht, hinter einem Vorhang, der Gelegenheit gibt, die Zahl der Harfen zu zählen (6 Stück, sechs), die Silhouette Eric Nielsens beim Dirigieren zu erahnen und die beleuchteten Notenständer als güldene Lichterlein in Fluss und Berg wahrzunehmen. Denn auf dem Vorgang strudelt der Rhein und trieft das Bergwerk von Nibelheim. Das Mobiliar für die neue Burg ist am Rand verstaut (Ausstattung Kaspar Glarner), darunter ein Rabenkäfig und eine beherzt entmythologisierende Speer-Auswahl (im „Siegfried“ müsste er nachher doch bloß einen anderen greifen, wie den nächsten Regenschirm).
Das Sängerensemble rückt einem davor und ohne Graben nahe wie im Sprechtheater. Das trifft sich gut mit Fassbaenders Vergnügen an einer unmittelbaren, sich aus dem Moment entwickelnden Personenführung, wie sie einem „Rheingold“ gut ansteht. Götter sind auch bloß Menschen, die vielleicht (nur vielleicht) noch weniger Rücksicht nehmen. Vorm mythisch aufgeladenen Raub stehen hier die Stibitz-Versuche – Zwerg und Gott unterscheiden sich dabei nicht grundlegend –, dazu passt, dass die eleganten Art-déco-Rheintöchter über schmuckes Tafelgold verfügen.
Alberich trägt zwar Morgenmantel und hat die Füße dreckig, aber er ist als Mann nicht abgeschlagen. Fricka ist eine adrette Hausfrau in Rosa, Wotan ein früher Silberrücken, der sich mit Meditationsübungen entspannt.
Die Erdung des Geschehens geht gut auf, dass es an Grenzen stößt, ist die Kehrseite einer Spontaneität, die mehr am Moment hängt als am großen Konzept. Gelingt sie, sieht man fesselnde Szenen – Fricka (Dshamilja Kaiser) erkennt in Erda (Judita Nagyová) blank und zu Recht eine Rivalin, Fasolt und Fafner schwirren nur so von Mimik und Empfindung unter ihren hohen Zylinderhüten. Bleibt der Umgang mit dem Moment hingegen halbgar, ist nicht recht nachvollziehbar, dass ausgerechnet der unbetroffene Zyniker Loge Alberich erdrosseln sollte, bevor dieser den Ring verfluchen kann. Halbgar eigentlich überhaupt die ganze Nibelheimszene, auch der Schluss mit Regenbogenansatz. Zu viele haben schon zu viel darüber nachgedacht, um so luftig davonzukommen.
Aber jugendlich ist es auch, „Rheingold“-jugendlich. Zu hören sind interessante Stimmen, darunter die von Simon Baileys Wotan, leichtgewichtig, aber dadurch auch agil, und von Ian Koziaras Loge, die apart groß und abgründig wirkt. Höhepunkte auch Craig Colcloughs markanter, relativ schöner Alberich und Thomas Faulkners Fasolt, dessen weicher verdi-affiner Bass dem ersten Toten der Serie, äh, der Tetralogie eine wahrlich menschliche Geschichte gibt. Na so was, da sind ja etliche (Ex-)Frankfurter Namen dabei. In der Tat.
Das setzt sich am nächsten Abend im Festspielhaus fort, Engelbert Humperdincks „Königskinder“ stehen auf dem Programm. Karen Vuong als Gänsemagd und Gerard Schneider als Königssohn sind ein rührendes, ernstes Paar in dieser nachtschwarzen Geschichte und in fordernden Partien, die sie überzeugend jugendlich bewältigen: der unermüdliche, angenehme Tenor Schneiders wie der reizvoll dunkelgrundierte, mit flattrigem Vibrato versehene Sopran Vuongs. Großartig Iain MacNeills milder, schwingender Bariton als Spielmann (ganz abgesehen davon, dass er aus dem Stand auf einen Kühlschrank springen kann), Katharina Magiera (im „Rheingold“ eine Luxus-Floßhilde) singt eine große, wilde alte Frau, hier endgültig keine „Hänsel und Gretel“-Hexe mehr.
Regisseur Matthew Wild hat in Herbert Murauers Ausstattung eine versehrte Welt zur Verfügung, in der einige Natur bereits mit Fantasie ersetzt werden musste. Origamivögelchen schwimmen im vermüllten Bachlauf. Die Bevölkerung, statt sich damit zu befassen, nimmt sich lieber Zeit für eine Bockwurst (im unfreundlich realistischen Mittelakt) und fürs Leute-Schinden.
In ihrer sanft unidyllischen Schlichtheit ist Wilds Inszenierung überraschend ergreifend. Das Kaputthauen des Schönen, weil man es nicht verstanden hat, wird von der Musik und namentlich dem fitten Kinderchor (den der Schule für Chorkunst München) für alle Zeiten bloßgestellt.
Karsten Januschke dirigiert nun im großen Orchestergraben das wieder sehr große Festspielorchester – einen kompetenten internationalen Mix –, dem er mehr Lyrik und Mysterium entlocken kann als Nielsen nebenan, aber auch unter günstigeren räumlichen Bedingungen. Sehr nahbar ist die sonst oft ein wenig ferne Oper auch hier, das Publikum begeistert und seinerseits bunt gemischt.
Tiroler Festspiele Erl: „Rheingold“ am 16., 18. Juli, „Königskinder“ am 17. Juli. Am 23. Juli hat „Lohengrin“ Premiere. Dazu zahlreiche Konzerte bis 1. August. www.tiroler-festspiele.at