„Orestie“ am Schauspiel Frankfurt: Man hat immer die Wahl. Hat man?

An Gedanken und Ideen mangelt es nicht, aber zwischen Spektakel und Programmhefttheater geht die „Orestie“ des Aischylos am Schauspiel Frankfurt weitgehend verloren.
Dies ist ein gut dreieinhalbstündiger Theaterabend, der sich sehr selbstbewusst zwischen einem ideenreichen Spektakel und einem Programmheft bewegt. Ein Programmheft, das aus seinem Format ausgebrochen ist: Dramaturgieabteilungen müssen es lieben, aber wer sich nicht gerne die Assoziationen und Überlegungen rund um eine Produktion am laufenden Band mit um die Ohren hauen lässt – die historischen Informationen, die Worterklärungen, dazu Dialoge aus Cormac McCarthys düsterem Roman „The Road“, Sätze von Heiner Müller/Paul Virilio über Europa, schließlich Postendzeitliches aus Tankred Dorsts „Merlin“, um im großen Stil aus dem Ganzen wieder herauszukommen –, liebt es gar nicht.
Im Kern von Jan-Christoph Gockels großangelegtem „Orestie“-Projekt steckt die Frage der Wahlfreiheit. Sie wird teils anregend umspielt, teils zu Tode geritten. Vor allem wird sie zu Tode geritten. So sind die Zeiten, ständig kann man etwas anklicken und wegklicken, Ja oder Nein oder eine Nummer sagen, aber bei „acht für Rache“ verhakt sich das Stimmengewirr dann doch.
Hinterm geschlossenen Eisernen Vorhang hat es vorher schon (mit Fäusten?) gegen das Metall gehämmert, die ersten Bilder zu den vielen Angeboten aus dem Off sind dann stumme und mysteriöse Tableaus. Die Menschen klein im riesigen, von Erosionen (von Blut?) dunkel-schmuddeligen Kasten, die gräulichen Gliederpuppen (von Michael Pietsch) noch mal halb so klein. Julia Kurzwegs Bühne, die Spielfläche gerade schräg genug, um Gegenstände ins Rollen zu bringen, sorgt dafür, dass wir erneut nicht einen einzigen positiven Aspekt daran finden, dass das letzte Stündlein des Frankfurter Schauspielhauses als Teil der Doppelanlage am Willy-Brandt-Platz schlagen soll.
Wahlfreiheit: Das übergroße Angebot der Stimmen ist selbstredend Betrug, die Dinge werden ihren Lauf nehmen, bis sie sich etliche Tote später in einem demokratischen Akt ins Friedliche wenden: Orest wird per Abstimmung freigesprochen, Recht siegt über göttliche Launen und menschliche Wut.
In einer Kabarett-Intro verlangt Christoph Pütthoff als Diener/Wächter, hier: Reinigungskraft schon ganz am Anfang, aber vergebens, dass das Kommende endlich ein Ende nehmen solle, die Gewalt, das Leid, die immer gleiche schlimme Geschichte, in der er als Diener/Wächter, hier: Reinigungskraft einfach kein Mitspracherecht habe.
Kassandra, Torsten Flassig, stößt uns in einer starken Szene noch einmal darauf: Sie müsse keine Prophetin sein, sagt Kassandra, um auf den bevorstehenden Gattenmord zu schließen -aus der Verbindung nämlich von Klytaimestras, Katharina Linders, Zorn auf ihren Mann, den (vermeintlichen) Tochtermörder Agamemnon, Sebastian Reiß, und ihrem Verhältnis zu Aigisthos, Andreas Vögler, der gleichfalls eine üble Rechnung mit Agamemnon offen hat. Jetzt lässt sie ihm ein schönes Bad ein. Linder kostet das aus, säuselt, lockt und hilft nach. Gockel mag diesmal gelegentlich sein Gespür für Timing abhanden kommen, aber seinen Punkt macht er klar: Alle können wissen, was logischerweise als nächstes passieren wird – Agamemnons Ermordung –, sie müssten nur ein bisschen nachdenken. Nicht mal nachdenken, hinschauen und hinhören, das würde schon reichen. Eins und eins zusammenzählen, so könnte Kassandra es formulieren. Das ist wahrhaftig keine besonders erstaunliche Erkenntnisse, wenngleich sie in diesen Tagen eine schreckliche Triftigkeit bekommt.
Das Verspielte, aber auch nach Art von Spielern kurios Langatmige, gehört schon immer zu Gockels Handschrift. In Frankfurt lief seine Produktion „Die Verwandlung“, in Mainz sind seine Arbeiten als Hausregisseur seit Jahren zu verfolgen. So entsteht der Eindruck, dass er mit dem Beharrlichen, gelegentlich Penetranten diesmal besonders verschwenderisch und immer wieder neu ansetzend hantiert. Das hängt gefährlich zwischen totaler Banalität, einer Schulstunde über Demokratie und ansehnlichem Theaterpomp.
Die drei Teile der 458 v. Chr. erstmals gezeigten Aischylos-Trilogie – über deren Aufführungspraxis, wie uns die Infopunkt-Stimmen aus dem Off natürlich zurufen, nur spekuliert werden kann – werden von Gockel, der Dramaturgin Marion Tiedtke und dem an der Fassung ganz offiziell beteiligten Ensemble kräftig zerlegt. Zerlegt wird auch die Agamemnon-Puppe – Pietschs Puppen doppeln das Personal, machen ansonsten in diesem Fall jedoch nichts weiteres sichtbar, außer mehr von dem, was schon da ist. Dass Gockels Inszenierungen ein Überfüllungsproblem haben können, ist schon gelegentlich aufgefallen, aber nie so deutlich. Dass die Unerbittlichkeit und Unvermeidlichkeit des Geschehens eben eine menschengemachte und anzweifelbare ist, lässt sich hingegen durch die Fragmentierung und die Unterbrechungen, dieses ständige Zurücktreten, Von-oben-Schauen, In-der-Literatur-Blättern und Googeln, unterstreichen.
Die Wucht der Tragödie wird dadurch freilich weggeschoben und durch die offenbar nachher vollzogene Apokalypse auch regelrecht übertroffen – selbstverständlich ist der Weltuntergang gewichtiger als das blutige Schicksal der Atriden. Das hat etwas kindlich Spektakuläres, ist aber auch eine Binsenweisheit. Nicht dass nicht äußerst viel nachgedacht worden wäre: Am Ende wird Pütthoff, der Diener/Wächter hier nun: das Volk, wir, doch die Fäden in die Hand nehmen. Er kürt ein Kind, eine fleischgewordene Pietsch-Puppe, zur Göttin Athene, die nun also einen demokratischen Vorgang einleitet. Der anonym bleibende Mensch macht sich die Religion zunutze, um die Gesellschaft einzurichten. Es ist mehr als schade, dass danach die Welt untergeht.
Zwischen den Elementen der Kopfgeburt – und eine Kopfgeburt ist es – immer wieder schöne, wenn auch rigoros untragische, antitragische Szenen. Ab dem zweiten Teil wird es insgesamt spielerischer, etwas konzentrierter, allemal bunter. Denn Klytaimestra und Aigisthos mögen es farbiger und auch irgendwie eingerichteter. Sie selbst sind glitzernd zurechtgemachte alte Monster, statuarisch zwischen dem bescheidenen Gerümpel aus Lampen und altem Spielzeug postiert. Mehrere anspielungsreiche Pferde darunter, auch solche aus Holz. Orest, Samuel Simon, ist ein etwas zarter Typ mit rosafarbenen Sandalen und im individuellen Einteiler. Elektra, Altine Emini, muss ihn zum Jagen tragen, das ist wörtlich zu verstehen.
Nicht mühelos, aber engagiert stopft er sodann seine beiden Mordopfer in die Unterwelt. Das ist die per Video zugeschaltete Unterbühne, wo bereits Agamemnon und Kassandra auf ihren Plätzen warten. Alle vier werden sich vom Tod nicht dauerhaft den Mund verbieten lassen. Den Kram auf der Bühne braucht Orestes nun dringlich, um die Zugänge zu verschließen, durch die die Gemordeten wieder nach oben wollen. Da ist allerdings schon Pietschs properer Erinnyen-Vogel und singt Volkslieder, wirklich eine Folter. Aufopferungsvoll geht Orest immer wieder an die Rückwand der Bühne, um sich dann rasend geschwind herunterrollen zu lassen: Sisyphos, der sein eigener Stein ist. Sinnig hockt sich ihm der Vogel auf den Unterleib: Prometheus.
Man bekommt gar nicht richtig mit, dass in der Bildermenge, in der Ideenflut und zwischen all den Infos zusammen mit der Tragödie auch die Menschen verloren gegangen sind. Da war doch zwischendurch etwas, in Linders Klytaimestra, in Reiß’ Agamemnon oder in Vöglers Aigisthos. Interessant: Worauf kam es dann eigentlich an? Auf das Theater? Echt?
Schauspiel Frankfurt, Schauspielhaus: 24., 28. Februar, 4., 5., 9. 18., 20., 29. März. www.schauspielfrankfurt.de