Wen oder was liebt Brunhild

Jan-Christoph Gockel inszeniert Friedrich Hebbels "Die Nibelungen".
Dem Auge des Riesen kann zurzeit keiner entgehen, der das Mainzer Staatstheater betreten will. Wie ein Big Brother der Vorzeit lugt dessen übermächtiger Kopf am Eingang über die Balustraden. Unten auf dem Vorplatz erzählt Spielmann Volker (Michael Pietsch) den Passanten ganz leutselig von Helden, die vor langer Zeit mit übermenschlicher Kraft gegen Drachen kämpften und Goldschätze anhäuften.
Was im Alltag lustig wirkt, erhält im Bühneninnern unheimliche Züge. Denn vor der Macht der Herrschenden gibt es trotz der Späße, die Jan-Christoph Gockel in seine Inszenierung von Friedrich Hebbels „Die Nibelungen“ am Staatstheater einfügt, kein Entrinnen. Das Trauerspiel beginnt in der Fassung des Mainzer Hausregisseurs als Possenspiel. Im Zirkuswagen, der auf der Bühne steht, geht ein roter Vorhang hoch. Hier, im Imaginarium Ministrelis Volker, erscheinen Riesen, von denen man jedoch nur die Beine sieht. Der Sage nach war der Mensch einst siegreich über sie. Im Reich der Phantasie ist alles möglich.
Eine schiefe Ebene führt jedoch vom Imaginarium hinüber in die Realität. Hier, im Reich der Nibelungen, herrscht König Gunther, den Sebastian Brandes harmlos heiter gibt. Gern balanciert er über die schiefe Ebene, erzählt Zoten und bringt das Volk bis in die hinteren Reihen, „wo die ärmeren Untertanen sitzen“ zum Lachen. Zugleich träumt er von Brunhilde. Die Puppe (gestaltet von Michael Pietsch) der eisernen Lady, die jeden tötet, der sie nicht erobern kann, erscheint auf des Spielmanns Bühne im weißen Hochzeitskleid. Doch wirkt die innige Umarmung, von der König Gunther träumt, unerreichbar fern.
In diese freimütige, lockere Stimmung bricht Siegfried (überzeugend: Nicolas Fethi Türksever) ein. Die Macht der Vorzeit, mit ihren Phantasmen und Zauberkräften wird wieder Teil der Realität. Übergroße Holzbeine ragen nun wie Säulen vom Boden bis zur Decke (für die ausgezeichnete Bühnengestaltung ist Julia Kurzweg verantwortlich) und begrenzen den Spielraum der Lebenden. Auf dem Fuß dieses Riesen richtet sich Brunhild ein. Die starke Kämpferin steht im Zentrum dieser Inszenierung. Leoni Schulz gibt sie mit überwältigender Energie. Die Zukunft legt Jan-Christoph Gockel in die Hände solcher Frauen. Denn nicht nur Brunhilde, auch des Königs Schwester Kriemhild (Anika Baumann) bestimmt auf stille Art das Schicksal ihres Volkes.
Während Hebbel im Widerstreit zwischen mythischen Kräften und Religion dem Kreuz den Sieg zuspricht, hat Gockel in seiner Bearbeitung zentrale Passagen gestrichen und gerade auch die kirchlichen Würdenträger ganz weggelassen. Auf die Frage, ob Brunhild die Bibel achte, erfolgt die lakonische Antwort: Sie liebt Torten. Geblieben sind jedoch drei Nornen, die in androgyner Gestalt (Kostüme: Sophie du Vinage) mit Bart, Bauch und üppigem Busen den bisweilen chorischen Erzähler geben und die Brücke zur Vorzeit bilden.
Geschickt hat Gockel so das komplexe Nibelungenlied, das die Grundlage für Hebbels Trauerspiel bildet, reduziert und den heldenhaften Kampf mit komödiantischen Szenen ausbalanciert. Die Macht liegt längst nicht mehr in den Händen der Könige. Diese sind, wie Gunther, dem Einfluss seines eloquenten Beraters Hagen Tronje (ausgezeichnet gegeben von Henner Momann) ausgeliefert, oder erhalten ihren Status, wie König Etzel (Andreas Catjar), nur durch den weißen Pelzmantel, den man ihm um die Schulter legt, weil er als Musiker gerade in der Nähe steht und mit feinen Livekompositionen das Geschehen begleitet.
Wer mit solchen Herrschern Kriege führt, wird das Heldenhafte an anderen Orten suchen müssen. Selbst der Riese, dessen Übermacht doch so unschlagbar scheint, wird am Ende in zerbrochenen Einzelstücken über die Bühne verstreut am Boden liegen. Der intriganten List der Zwerge ist auch er nicht gewachsen. Als Hagen Siegfried an seiner verwundbaren Stelle trifft und tötet, bricht die sagenhafte Götterwelt ins sich zusammen.
Brunhilde ist nun diejenige, die das Zepter der Macht in Händen hält. Zwar tritt sie nach ihrer Hochzeitsnacht in eben jenem weißen Kleid auf, von dem Gunther zu Beginn geträumt hat, doch ist ihr Kleid im Schulterbereich schwarz geblieben. Die Mächte der Vorzeit wirken weiter.