Nis-Momme Stockmanns „Das Gesicht des Bösen“

Der Kapitalismus ist schlimm, machen sie sich also lieber einen Theaterjux.
Eine offensichtliche Schwierigkeit in der Kritik am Kapitalismus liegt darin, dass sie, die Kritik, auf der Hand liegt, die meisten Menschen aber dennoch irgendwo davon ausgehen, selbst nicht viel mit ihm, dem also knallhart als kritikwürdig erkannten Kapitalismus, zu tun zu haben. Außer wenn sie gelegentlich etwas bei einem einschlägig bekannten Versandunternehmen im Internet bestellen, obwohl sie wissen, dass sie sich nur zu einem Gang in die Innenstadt aufraffen müssten, wobei die Innenstadt nicht direkt einen Ort der Kapitalismusvermeidung darstellt.
Auch zweiteres, dass die Menschen davon ausgehen, nichts damit zu tun zu haben, aber gleichzeitig wissen, dass das nicht stimmt, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Sperrangelweit offen die Türen, die ein Theaterstück über den Kapitalismus und die Kritik daran einrennen soll, aber auch das Theaterstück und der Autor wissen das längst und planen es ein: Ja, genau, wir wissen das alles und ihr dort im Publikum wisst es auch und ihr habt für eine Theatervorstellung bezahlt, und insofern ist euch bewusst, dass auch eine Theatervorstellung nicht außerhalb des kapitalistischen Kreislaufs existiert, und, ja, seht sie euch nur an, die Liste mit den Sponsoren und Sponsorinnen des Schauspiels Frankfurt, auch die Deutsche Bank Stiftung ist dabei, die in der Suada des Autors auf Deutsche Bank heruntergekürzt wird. Denn mit einer Suada beginnt der Abend, die darauf hinausläuft, dass jetzt am Ende, dem Ende der Suada, das allerdings eine Weile auf sich warten lässt, ein Theaterstück über den Kapitalismus und die Kritik an ihm zu sehen sein wird. Das Theater ist generell gut darin, offene Türen mit Effet einzurennen, rennt es sie hingegen mit Ironie und Distanzierung auf, kann das schal wirken.
Andererseits: Schauen wir mal. Das neue Stück des erfolgreichen Autors Nis-Momme Stockmann, im August 40 geworden, heißt „Das Gesicht des Bösen“ und ist im Mai in dänischer Sprache herausgekommen. Die Inszenierung von Lea Gockel in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt ist darum die deutschsprachige Erstaufführung. Die Bankentürme neben den Städtischen Bühnen kommen im Stück beiläufig auch vor.
Zuerst die Suada des Autors, vermutlich des Autors des folgenden Stücks, wenn auch die Arbeit, die er schildert, von epischer Breite und beträchtlichem Aufwand gewesen sein muss: Ein antikapitalistisches Stück, das nicht nur die Geduld des Publikums, sondern auch das Konto des Theaters über die Maßen strapaziert hat. Sebastian Kuschmann ist es in Frankfurt, der mit immenser Gedächtnisleistung seitenweise reden, reden und reden muss, sich als linker, allerlinkester Autor des Hauses vorstellt, den Kapitalismus pflichtschuldig, aber wie selbst davon gelangweilt kritisiert und sich zur Frage vorarbeitet, nein vorblabert, wo der Kapitalismus denn nun stecke, wo „das Gesicht des Bösen“ zu finden sei. Bevor er aber ausspricht, was jeder weiß (und schon wusste), dass wir es nämlich selbst sind, wir alle als die Teilchen, aus denen sich das abstrakte Riesending Gesellschaft formiert, unterbricht ihn der Vorstellungsbeginn. So dass am Anfang am Ende eine Banalität steht, aber mit einem ironischen Crescendo vorgetragen, einem Trommelwirbel ins Nichts beziehungsweise ins Stück hinein, das wohl die Antwort demonstrieren soll.
Jetzt wird es an sich klassisch. Zwei Leute im Aufzug nach sehr weit oben, die Chefetage eines Rüstungskonzerns hat gerufen, die beiden arbeiten im Untergeschoss, eigenartigerweise im Archiv. Archive stellt man sich vielleicht als Refugien vor, hier aber scheint es karrieristisch zuzugehen. Und doch: Beim Lesen zeigen sich Typen wie du und ich, auf scheue Art gesellig, hierarchisch sortiert – die Figur Schwarz mehr als die Figur Blau –, mit gelegentlichem Überblick und auch mit Nachdenklichkeit. In zunehmender Panik, denn selbstverständlich bleibt der Aufzug stecken, dazu baut Stockmann noch eine Thriller- und Mysteryhandlung um die Eingeschlossenen herum, von der in Frankfurt wenig übrig ist (und fast nichts, was sich ohne Textkenntnis noch verstehen ließe).
Auch von den Leuten Blau und Schwarz ist wenig übrig, denn der fabelhaft gelenkige und hingebungsvolle Komödiant Fridolin Sandmeyer und die stark heruntergekühlte Friederike Ott sollen sich offenbar nicht für einen Moment auf konversationsstückmäßige Details einlassen. Stattdessen lässt Gockel sie direkt tüchtig ausgeflipptes Theater machen, ein offensives, aber unverbindliches Klamauktheater, bei dem Stockmanns Einfall, dass Blau ein dramatisches Stuhlgangbedürfnis hat, behilflich ist. Es ist eine restlose Vereinfachung der Situation, dass das in einem prototypischen Klamauk geschieht und nicht Menschen widerfährt, die in einer ohnehin schon stressigen Situation in einem Aufzug feststecken.
Dazu passt, dass der dritte Teil, die Rückkehr des nun milde Hoffnung im Privaten suchenden Autors, mit einer kleinen Extravolte in die Theaterwelt (und den nächsten Aufzug hinten auf der Kammerspielbühne) führt. Selten einen so überdeutlichen Fall gesehen, wie sich Theater für sich selbst, aber nicht für die Welt da draußen zu interessieren scheint.
Devin Rebecca McDonoughs Bühne greift das ungewöhnliche Spielflächen-Muster des Autorenanzugs (Kostüme: Cosima Winter) auf. In einem Comic würde der Autor im Bodenbelag verschwinden und sich am Ende wieder daraus lösen. Niels Lanz steuert Musik und Sounds bei.
Es war der vorerst letzte Theaterabend in einem vollen Zuschauerraum, der allerdings, das zeigte sich auch anderswo, bereits nicht mehr ganz voll war. Dafür wurde direkt eine Reihe weiter hinten noch einmal so richtig nervtötend laut gelacht. Zu lautes Gelächter im Theater, wenn man noch nicht weiß, ob man mittun will: Unangenehm, weil es einem die Möglichkeit nimmt, selbst festzustellen, wie komisch man es findet. Und doch: Wir vermissen sogar das schon jetzt.
Schauspiel Frankfurt, Kammerspiele: 17., 20. Dezember, 16. Januar. www.schauspielfrankfurt.de