Nicht ein Lüftchen

Die Kunstfertigen: Georges Feydeaus "Klotz am Bein" am Schauspiel Frankfurt.
Exemplarisch führt das Schauspiel Frankfurt in der letzten Premiere der Spielzeit vor, wie man irrwitzig auf Draht sein kann, sich aber dennoch nichts verbindet. In dieser Reinform ist das eine Rarität.
Mit was hätte sich das wirklich beträchtliche, hochelektrifizierte Geschehen auf der Bühne des Schauspielhauses denn verbinden sollen? Mit einem harmlosen, allerdings offen und ehrlich die Verlogenheit der oberen zehntausend vorführenden Klassiker von Georges Feydeau, „Klotz am Bein“ (1894). Ein schlapper Hübschling mit dem nicht leicht aussprechbaren Namen Fernand de Bois d’Enghien muss sich dringend um seine Finanzen kümmern. Also will er eine lukrative Partie machen, auch hat sich schon eine gefunden, denn der Name de Bois d’Enghien klingt nobel im Ohr der Nasale kompetent und vielfältig formenden Französinnen.
Zuvor jedoch müsste er rasch noch mit seiner bisherigen Freundin Schluss machen, einer berühmten Sängerin. Allerdings verpasst er den dafür geeigneten Zeitpunkt bzw. nutzt ihn unzulänglich konsequent (denn bevor es Nacht wird, liegt er wieder droben). Ohnehin ist der geeignete Zeitpunkt mit dem Einsetzen der Handlung schon ein paar Wochen her. Heute wird der Ehevertrag unterzeichnet werden – Fernand de Bois d’Enghien denkt sich, das kann ja noch gerade hinkommen. Kommt es nun aber nicht. Es gilt im Folgenden zu verhindern, dass die Freundin die Hochzeitsanzeige in der Zeitung sieht, wobei Fernand de Bois d’Enghien noch nicht weiß, dass sie ohnehin schon als Sängerin für die kleine Feier zur Vertragsunterzeichnung engagiert ist.
Das Feydeau’sche Räderwerk der rustikalen Wirrungen setzt ein. Gezaust und gemahlen wird dabei der Verlobte & Liebhaber, der sich in einer ähnlich existenziellen, aber weniger symbolisch aufgeladenen Lage befindet wie Kleists Richter Adam, so dass man erfreut, aber nicht verblüfft ist, an dieser Stelle Max Mayer (Adam seinerzeit in Oliver Reeses Frankfurter „Zerbrochnem Krug“) wiederzusehen. Vom noch recht saloppen Auf-nachher-Verschieben bis zum Zuhalten des imaginären Schrankes, in dem sich der Missetäter verschanzt hat, durchlebt auch Fernand de Bois d’Enghien alle Phasen der Hatz, die das Schicksal für Lügner in lustigen Stücken vorsieht. Anders als bei Kleist, das muss noch einmal betont werden, bewegt sich Feydeau aber auf dem Boulevard. Man braucht Türen (und Schränke), man braucht herumeilende Darsteller in hochnervösen Zuständen.
So dass man zunächst nicht aus dem Staunen herauskommt, warum es überhaupt nicht funktioniert, wo doch das Ensemble tut, was es kann. Und es kann viel.
Folgendes also haben sich Regisseur Roger Vontobel und Bühnenbildner Olaf Altmann für diese Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen ausgedacht, wesentlich flankiert von den Kostümen Ellen Hofmanns und der Musik / den Geräuschen, die Keith O’Brien von der ersten Reihe aus einspielt (er braucht perfekte Sicht): Die Bühne ist ein großes Viereck, begrenzt von Saiten, die vertikal und so eng und stramm gespannt sind, dass sie drei ganz futuristische (irgendwie so ein Raumfahrtmaterial) und immens hohe Wände bieten.
Die vielgescholtene Guckkastenbühne ist insofern noch lange nicht am Ende, und wer sie betritt, zwängt sich einfach – kleiner Scherz – durch die elastischen Saiten, von O’Brien mit feinen Ploing-Lauten begleitet. Vontobel bekommt das nie satt. Jeder Auftritt, wirklich jeder Auftritt ist ein ausführliches Quetschen, Kullern, Springen, Hängenbleiben, Zurückgeschnipstwerden, ploing, ploing, ploing, ploing, ping.
Körperlich besonders gefordert ist dabei Stefan Graf als Bediensteter sämtlicher betroffener Haushalte, der wenig Text hat und sich umso hingebungsvoller durch die Saitenwände schmeißt. Auf der Bühne nichts weiter, handlungsrelevante Blumensträuße sind handverlesen zusammengestellt, den erwähnten Schrank muss man sich vorstellen – Fernand de Bois d’Enghiens Bloßstellung wird natürlich noch grausliger dadurch –, der Rest ist Kostüm. Extravagante Muster zu Schnitten verarbeitet, die als 19. Jahrhundert durchgehen, zum Teil auch als zeitloser Partychic: Eine Augenweide.
Platz für Interieur wäre auch insofern nicht, als die Schauspielerinnen und Schauspieler ohne Unterlass zippeln und zappeln, springen und zucken, kreuchen und fleuchen, sich ringeln und schlingeln und ferner in Ohnmacht oder einander um den Hals fallen. Das „ferner“ beim In-Ohnmacht-Fallen nehme ich hiermit zurück. Auch von alledem jedenfalls bekommt Vontobel überhaupt nicht genug. Anspannung herrscht von der ersten Minute an und wird zwei Stunden lang (dazwischen aber eine Pause) schonungslos aufrechterhalten. Eine Spannungssteigerung ist nicht möglich und nicht eingeplant. Als es einmal doch besonders stürmt, ist es ein Sturm in den Köpfen. Nicht ein Lüftchen war da in echt, stellen sie hinterher fest. Das stimmt. Hier hat man vielleicht einen Grund dafür, warum das nicht funktioniert.
Das Ensemble: virtuos bis in die Zehen. Ist Max Mayer der rasend leidende Schurke aus Drückebergerei – auch nackt und bloß ein Zappelphilipp, ein Trickfilmmännlein –, steht ihm Claude De Demo als seine empfindsame Geliebte mit einer raffiniert durch einen Hauch von Tragödinnenernst gedrosselten Exaltiertheit gegenüber. Ihr Augenaufschlag, ihr knirpsiges Lächeln: sensationell. Max Mayers Verlobte, Friederike Ott, ist zwar zusammen mit ihrer hier verhältnismäßig statuarischen Mutter, Katharina Linder, ein fabelhaftes Paar. Sie hat aber etwas unter der an dieser Stelle penetrant „modernisierten“ Sprache zu leiden (verwendet wird die Fassung von Claudius Lünstedt), muss andauernd „easy“ und „cool“ sagen, was im Grunde auch schon keiner mehr macht. Der Sprachwitz, sagen wir mal, wird brav transportiert, aber er geht im Gezappel ein wenig unter. Das ist sozusagen kein Schwerpunkt. Dies ist vielleicht noch ein Grund, weshalb das nicht funktioniert.
Matthias Redlhammer ist als geschmähter Hobbydichter die hier recht interessante Figur, die nicht mitspielt (nicht mitkaspert, aber immer ihren Schirm vergisst). Heiko Raulin ist der feurige ausländische General, Sebastian Reiß der gemütliche Ex-Mann der Sängerin (hier geht es, Sie merken es, kreuz und quer), Anna Kubin ihre missachtete Schwester – aber Vontobel lässt auch sie paradieren –, Peter Schröder der pütschrige Hausfreund, der schlecht aus dem Mund riecht. Das ist noch so ein Gag, auf den schon Feydeau nicht, aber erst recht nicht Vontobel auch nur 1 Minute verzichten mag. Man lacht schon, aber man lacht sich nicht kaputt, während man sich zwischenzeitlich fragt, was man dann aber sonst hier tut. Mit der Frage, wie komisch das am Ende des Tages ist, hat sich Vontobel anscheinend nicht ausführlich befasst. Darauf lag sozusagen nicht sein Fokus. Da hat man vielleicht einen weiteren Grund dafür, warum das nicht funktioniert.
Denn, und das ist das, was wirklich nicht funktioniert: Man bewundert die Kunstfertigkeit über alle Maßen und bleibt kühl und schlaff dabei. Die exquisiten Figuren bleiben menschlich uninteressant. Das Stück bleibt uninteressant. Die Inszenierung teilt nichts mit, außer wie schön und flott sie ist. Ja, schön und flott ist sie. Auf diesem hohen Niveau geschieht all das selten.