„Nach Mitternacht“ von Irmgard Keun am Schauspiel Frankfurt: Die sechsfache Sanna

Irmgard Keuns Roman „Nach Mitternacht“, in possierliche und sehr leichtgängige Bilder gesetzt in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt.
Das Schauspiel Frankfurt eröffnet programmatisch, aber vielleicht auch doch bloß organisatorisch postcoronatheaterbedingt mit drei Abenden auf Prosatexte. Zwischen Upton Sinclairs umfangreichen Antikapitalismusroman „Öl!“ (FR v. 18.9.) und Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ (gestern Abend, Besprechung folgt) passte Irmgard Keuns Exilroman „Nach Mitternacht“: eine interessante Kombination, die dreimal davon erzählt, wie der einzelne Mensch, sofern er begreift, was um ihn herum geschieht, sich gegen eine auf unterschiedliche Weise gesellschaftspolitisch ungute Lage zu stellen versucht. Ein lebenslanges Herumgeeier (Bunny in „Öl!“), eine terroristische Selbstjustiz (Kohlhaas), eine Flucht: Die 19-jährige Susanne Moder wohnt 1936 in Frankfurt, und auch wenn es unmittelbar die Liebe ist, wegen der sie schließlich das Land verlassen wird, widern die Verhältnisse sie zuvor bereits an.
Die Verhältnisse: das Denunziationsklima, das Hochkommen der Gemeinsten und Dümmsten, das Unglück der Feinsten und Klügsten, die Bedrohung für Leib und Leben und die nackte Angst, die daraus resultiert. Die Willfährigkeit, mit der die meisten aber doch eh mitmachen, weil sie Mitmacher und Mitmacherinnen sind. „Nach Mitternacht“, 1937 im Exil erschienen, ist ein schlagender Beleg dafür, was Deutsche über die Vorgänge im eigenen Land wussten und später nicht gewusst haben wollten.
In den Kammerspielen schlägt die Regisseurin Barbara Bürk einen leichten Ton an. Er steht in einem Zusammenhang zur sehr jungen, zivilen, vernünftigen und empathischen Sanna, geht aber Keuns Erzählton doch mehr auf den Leim, als es der nachtschwarzen Geschichte entspricht. Es darf gegickelt werden, es wird gegickelt. Bärtige Männer in Frauenkleidern, offenbar regt das die Lachlust weiterhin unwiderstehlich an, eine Lachlust, die die Akteure optisch beflügeln, im Spiel aber eigentlich unterlaufen. Sie sind einfach, die sie sind, sind verletzliche Individuen und um ihre Würde bemüht, und sind jedenfalls alle zunächst Sanna Moder, Sanna 1 bis 6. Eine junge Frau in unterschiedlichen grüntönigen Kleidern mit unterschiedlichen blonden Haaren, Ausstatterin Anke Grot zeigt keine Sechslinge, aber Sannas mit Wiedererkennungseffekt als Jedefrau. Die anderen Figuren arbeiten sich nach Bedarf aus den sechs heraus.
Michael Schütz wird dann zum friedfertig dröhnenden Kirsch-Trinker Kulmbach, Christoph Pütthoff zum stillen Franz, Christina Geiße zur bieder-dummen Frau Silias. Uwe Zerwer wird zu Tante Adelheid oder zum SA-Mann, der jetzt halt noch die goldenen Ohrringe am Ohr hat, Melanie Straub zur total verknallten Liska (verknallt in Heini, wiederum Michael Schütz). Wolfgang Vogler ist eine phänomenale Gerti, frech und sachlich bis ins Mark, ebenso vollständig und überzeugend aber einen Moment später auch Algin, der von den Nazis ausgebootete Schriftsteller. Ruinierte Existenzen, geschredderte Berufswege: Irmgard Keun, die es gerade selbst erlebt hatte, lässt keinen Zweifel daran, was Unfreiheit in einer Diktatur bedeutet. In Barbara Bürks Scharade hingegen kann man es glatt übersehen, wenn man nicht ein bisschen aufpasst, aber ein bisschen aufzupassen, steht einem Theaterpublikum gut an. Am Rand macht Markus Reschtnefki melancholische Musik am Klavier und Xylophon und steht auch für stumme Rollen zur Verfügung im eleganten Ineinanderfließen der Szenen.
Auch der Anderthalb-Stunden-Abend „Nach Mitternacht“ stellt sich der Schwierigkeit, einen Prosatext auf die Bühne zu bringen, mit der Courage und Fantasie, nicht in eine blanke Nacherzählung zu rutschen. Bürk sucht und findet Theatermittel, das Spiel und die keck anskizzierte Illusion gehören dazu, die Setzung, dass Melanie Straub eben noch die beobachtende Sanna war und jetzt, im knallroten Abendkleid, die außer sich vor Liebe geratene und entsprechend balzend tanzende Liska geworden ist.
Wie Susanne Moder bei aller Eigenheit austauschbar sein soll, ist es freilich dieses Konzept, das einen auch schon ausprobierten Bühnenansatz für viele Prosastücke bietet. Nicht nur die ironisch heroischen Tableaus, mit denen das Nazitum der Lächerlichkeit preisgegeben wird, hinterlassen den Nachgeschmack, dass das Flotte und Distanzierte am Ende lediglich einen Zipfel der Welt erfasst, der Roman „Nach Mitternacht“ aber weit mehr davon.
Schauspiel Frankfurt, Kammerspiele: 26. September, 3., 4., 25. Oktober. www.schauspielfrankfurt.de