Münchner Kammerspiele: No country for old hierarchies

Spielzeiteröffnung an den Münchner Kammerspielen, soeben zum „Theater des Jahres“ gekürt: Dem „alten, weißen Mann“ geht es an den Kragen. Und nicht nur ihm.
Die vor kurzem in der Zeitschrift „Theater heute“ zum „Theater des Jahres“ gewählten Münchner Kammerspiele gehen in die letzte Saison unter Matthias Lilienthal. Gleich zu Beginn des Theaterjahres gelingt mit zwei Performances und einem Shakespeare-Drama ein Befreiungsschlag: Die „Kammer“ ist ein Theater für alle.
Den Rand zum Zentrum der Betrachtung machen: Mit dieser Blickregime-Strategie operiert Anta Helena Recke nicht nur in ihrer gefeierten „Schwarzkopie“ der Mittelreich-Inszenierung 2017/18, sondern nun auch in „Die Kränkungen der Menschheit“. Da wären zunächst mal die Affen: Sechs Erwachsene und ein Kind bewegen sich gefühlt eine halbe Stunde lang auf allen Vieren auf einer bis auf einen unten weiß verkachelten und oben verglasten White-Cube-Käfig fast leeren Bühne. Nur mit hautfarbener Unterwäsche bekleidet, lausen sie sich gegenseitig, schnuppern aneinander, picken Essbares auf und geben Laute von sich. Das Publikum sieht der Abstammung der Menschheit zu.
Alles ist tiefenentspannt, bis Museumspublikum – einer der Besucher trägt das Motto-T-Shirt: „Make Data Great Again“ – den Raum betritt und im Affenkäfig (nun ohne Affen) zwei Bilder diskutiert. Wir sehen sie nicht, sondern erfahren nur über die Diskurse davon: „Affen als Kunstrichter“, Cornelius von Max’ Gemälde aus dem Jahr 1889, und Araya Rasdjarmrearnsooks Foto „Van Gogh’s The Midway Sleep and the Thai Farmers“: Westlich-gebildete Diskurse über Minority-Gemeinschaften, die westliche Hochkultur-Erzeugnisse betrachten.

So anregend und treffend einerseits die Rückkoppelung der dominanten Whiteness mit Sigmund Freuds Kategorien der Kränkungen der Menschheit durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der weißen Männerwelt daherkommt, so sperrig bleibt insgesamt die Inszenierung. Großartig die schauspielerische Leistung der „Affen“, leicht und vielseitig-schlau die Kunstdiskurse und bunt und schön, auch rätselhaft das letzte der drei unverbundenen Bilder der einstündigen Performance, als Dutzende von weiblichen People of Colour das imaginäre Museum in einer Art Flashmob in Besitz nehmen und sich als vielleicht letzte Kränkung der Menschheit kein bisschen für diese Kultur interessieren.
Am nächsten Abend des Eröffnungswochenendes bietet Verena Regensburger jungen Aktivistinnen und Aktivisten der Münchner Fridays-For-Future-Bewegung eine Plattform im Haus der Kunst, dem ewigen Nazi-Tempel im Fleisch der Stadt. Die Zehn- bis Neunzehnjährigen politisch engagierten Menschen mit einfacher, jeweils uni-farbiger Kleidung, strumpfsockig, bringen zwischen den Zuschauern und auf einem Podest mit rot-grünem, sehr altmodisch-schlichtem Kettenkarussell ihre ganz persönlichen Geschichten zur Sprache. Geschichten nicht nur von Umweltkatastrophen, sondern von Rassismus, Diskriminierung, Ausgrenzung. Weil man anders ist. Oder sein will.
Termine
„Die Kränkungen der Menschheit“
in der Kammer 2: 15./16. Oktober.
„These Teens Will Save the Future“
im Haus der Kunst: derzeit alle
Vorstellungen ausverkauft.
„König Lear“ in der Kammer 1:
2., 12., 14., 20. Oktober. www.muenchner-kammerspiele.de
Es wird skandiert, gebrüllt, argumentiert, abwechselnd im Chor eines Panik-Orchesters und in intimen Erzählungen, die von eigenen Ängsten berichten und danach gezielt die Erwachsenen zum Miteinander im Kampf auffordern. Diese Dokumentar-Performance überzeugt durch ihre naive Brutalität. Nur gemeinsam schaffen wir das. Sie wollen doch nur spielen: Na klar, auch das zu Recht hoch gerühmte und dekorierte Ensemble der Kammerspiele wird an diesem Wochenende noch mal von der Leine gelassen. Stefan Pucher schickt die vor Spielfreude fast explodierende Bande im Haupthaus an der Maximilianstraße in seiner „König Lear“-Version auf eine bei Shakespeare verlässliche Reise voller wahnsinniger Wortwechsel und Blut.
Thomas Schmauser und Samouil Stoyanov sind als Lear und Graf von Kent respektive der Narr das irrste, intensivste und einprägsamste Männerpärchen seit Starsky und Hutch. Gro Swantje Kohlhof und Julia Windischbauer, Lears Töchter Goneril und Regan, schreiben sich als feministisches Duo Infernale in die Köpfe der Zuschauer ein. Christian Löber kommt als völlig losgelöster Major Tom (Edgar) aus David Bowies Song „Ashes to Ashes“ vom Himmel auf die Erde, während Thomas Hauser den alten Jungs-Traum als Bösewicht (Edmund) in Schlangenlederoptik zelebrieren darf. Wiebke Puls glänzt rothaarig und sprachgenau als gedemütigte Mudda der Brut. Wie alle Genannten stecken auch Jelena Kuljic (als Cordelia) und Anna Seidel (Diener Oswald) in unvergesslich trashig aufgemotzten Kostümen von Annabelle Witt des insgesamt vor Farbenfreude blendenden Bühnenraums (Nina Peller).
Stefan Pucher wäre nicht Stefan Pucher, wären nicht meterhohe Live-Video-Wände im Spiel, würde nicht auch über musikalische Zeichen Gegenwärtigkeit generiert. Zudem ist noch ein Sprachartist an Bord, dessen Kunst alles andere fast noch überstrahlt: Thomas Melle hat eine ebenso heutige wie die Tradition bewahrende Überschreibung von Shakespeares Vorlage geliefert, die den Spielern auf der Bühne alle Türen aufmacht. „Unsere Worte schaffen Wirklichkeiten, Lear“, weiß Kent.
Radikal ins Hier und Jetzt übertragen, spannt sein Lear den Bogen zu Debatten über das Ende der patriarchalen weißen Macht, zur Klimabewegung. „The End“ prangt in großen, schwungvollen Buchstaben über allem. Und Regan und Goneril als Befreierinnen der Unterdrückten spielen nun ihrerseits das Spiel der Gewalt im Tarantino-Stil – für eine bessere Welt. Act Now!
Es lag schon eine Art Glückseligkeit auf den Gesichtern vieler Zuschauer, als nach der wahnsinnig umjubelten Vorstellung vom Gastgeber für alle ein Gläschen Perlwein spendiert wurde: Als fühlten sich alle angenommen. Stößchen.