Marco Goecke – Ein großer Künstler zerstört seine Karriere

Nach dem Hundekot-Angriff wird Marco Goecke in Hannover nicht zu halten sein. Es ist ein Verlust für die Tanzwelt.
Zum ersten Mal ein Stück von Marco Goecke zu sehen, elektrisierte die FR-Kritikerin. Es war das Jahr 2006, Goecke war gerade Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts geworden, und seine sehr eigene, eigenwillige Handschrift schien nichts weniger als die Tanzkunst in die Zukunft zu führen. Dieses nervöse Flattern, Zucken, Zappeln, diese Arm- und Handbewegungen, die so krass und schnell ausgeführt wurden, dass das Auge nicht mehr mitkam, diese fiebrige, oft in Düsternis getauchte Dringlichkeit – so konnte nur ein Mensch tanzen lassen, der die immer rasendere Geschwindigkeit der Welt wahrnahm, sich vielleicht von ihr bedrängt fühlte, aber sie eben auch umzusetzen verstand in ein veritables, als Spiegel dieser Zeit zu begreifendes Kunstwerk.
Ein Rückblick, der nicht leicht fällt, der von einem Gefühl der Fassungslosigkeit begleitet wird, da jetzt dieser großartige – freilich auch als verletzlich, sensibel, schwierig bekannte – Choreograf seine Karriere jäh zerstört hat. Ja, er selbst hat sie zerstört, denn dafür, Hundekot auf die FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster geworfen zu haben, kann es keine Entschuldigung geben.
Das war auch den Verantwortlichen in Hannover sofort klar, die Goecke, zuletzt Direktor und Chefchoreograf des Staatsballetts, suspendierten, ihm außerdem ein Hausverbot erteilten und die nicht drum herum kommen werden, ihn zu entlassen. Sie müssen vielleicht noch die polizeilichen Ermittlungen abwarten, rechtlicher Fragen wegen, aber es ist kein anderer Ausgang zu erwarten. Das Staatsballett ist damit von einem auf den anderen Tag ohne Leitung, ohne Repertoire. Denn auch die bereits einstudierten Stücke wird man nicht einfach weiter zeigen können. Und es ist auch nicht wie in den Sparten Schauspiel oder Oper, wo man zügiger und leichter Gäste beischaffen kann, die dann mal was inszenieren, mal dirigieren.
Es ist eine Katastrophe für Hannover – und für die Tanzkunst.
Denn wo immer Werke Goeckes auf dem Spielplan standen – der inzwischen 50-Jährige war in den vergangenen Jahren gefragt wie wenige seiner Zunft, war von Amsterdam bis Paris vertreten –, wird man sich auf lange Zeit hüten, Weiteres von ihm einzukaufen. Der Geruch von Hundedreck hängt nun daran.
In Hannover, wo es auch eine emsige, jedes Jahr einen wichtigen Choreografen-Wettbewerb ausrichtende Ballettgesellschaft gibt, mithin auch ein tanzkundiges Publikum, hatte man gerade vorsichtig angefangen, sich über die neue Handschrift zu freuen, die nach dem bieder-braven Jörg Mannes in der Staatsoper Einzug gehalten hatte. Mit der Spielzeit 2019/20 hatte Marco Goecke von Mannes übernommen. Die Pandemie verhinderte einen frohen, ungehinderten Start, aber Goecke schien erstaunlich gut damit zurechtzukommen, besser als manch anderer Tanzschaffender. 2021 konnte die Premiere von „Der Liebhaber“ nach Marguerite Duras nur online stattfinden – aber selbst auf einem kleinen Laptop-Bildschirm war der Eindruck dieses Balletts der einer wunderbaren Stimmigkeit in jedem Detail – dank auch der typisch Goecke’schen klaren Bildsprache und durchaus auch seiner Sparsamkeit.
Seine Werke lassen sich beschreiben als das Äquivalent eines (schmalen) Romans, in dem es kein Wort zu viel gibt. Es kristallisieren sich in ihnen diese Momente, Kerne gleichsam, heraus, die den Inhalt des Abends zu symbolisieren vermögen, egal, ob es sich um den „Nussknacker“ (2006) oder um „Orlando“ (2010) handelt. Letzteres ließ die besondere Qualität der Texte Virginia Woolfs mit den Mitteln einer ganz anderen Kunstform ahnen, wie es ähnlich einst William Forsythe gelungen war mit „Woolf Phrase“. Dieser Kritikerin jedenfalls griffen die Stücke Marco Goeckes immer wieder ans Herz. Aber sie nahm natürlich wahr, dass es anderen damit anders erging.
Dass es sehr schwer sei, seinen Stil zu kopieren, sagte er in einem Gespräch zu Pandemiezeiten. Das ist sicherlich so, man erkennt seine Bewegungssprache, wie nur er sie beherrscht, schon in den ersten Minuten einer Aufführung. Deswegen scheiden sich aber auch die Geister, scheiden sich an dieser Atemlosigkeit, dieser hochgezwirbelten, oft grandiosen Intensität. Lauwarm lassen die Werke dieses Choreografen wohl niemanden, die einen sind begeistert, die anderen äußern sich mit Unverständnis über „dieses Gezappel“. Dass seine Kunst polarisiert, das hätte er mittlerweile eigentlich gewöhnt sein müssen.
So ist an dieser unseligen Geschichte auch ein wenig verwunderlich, dass Marco Goecke jetzt, da er ein von vielen Seiten (nur halt nicht von Wiebke Hüster) gelobter Ballettdirektor in Hannover war, die Sicherungen so durchgebrannt sind. Zahlreiche Ehrungen hat er erhalten, von „Choreograf des Jahres“ bis zum Tanzpreis, vom niederländischen Tanzpreis bis zum Jirí-Kylián-Ring.
Auch deswegen bestürzt dieser Vorfall so, weil da ein Künstler von – gerade wegen seiner Modernität – ungewissen Anfängen aus sich einen ziemlich unangefochtenen Platz erarbeitet hatte in der Tanzwelt. Marco Goecke stand schon lange nicht mehr am Spielfeldrand, obwohl seine Bewegungssprache nie in den Mainstream eingeflossen ist.
Inzwischen hat Goecke sich geäußert, erklärt, entschuldigt: „Das Symbol ist, dass sie mich auch jahrelang mit Scheiße beworfen hat“, sagte er im NDR, es sei „absolut aus dem Affekt“ geschehen. Gestern Nachmittag dann ließ er mitteilen: „Ich möchte mich bei allen Beteiligten, an erster Stelle bei Frau Hüster, für meine absolut nicht gutzuheißende Aktion aufrichtig entschuldigen. Im Nachhinein wird mir klar bewusst, dass dies eine schändliche Handlung im Affekt und eine Überreaktion war.“ Es ist trotzdem nicht vorstellbar, dass er seinen Job behalten kann.
